Ganz Deutschland war bestürzt über Luthers geheimnisvolles Verschwinden. Überall forschte man nach seinem Verbleib. Die wildesten Gerüchte wurden in Umlauf gesetzt, und viele glaubten, er sei ermordet worden. Es erhob sich großes Wehklagen, nicht nur unter seinen offenen Freunden, sondern auch unter Tausenden, die sich nicht öffentlich zur Reformation bekannt hatten. Manche banden sich durch einen feierlichen Eid, seinen Tod zu rächen. {GK 185.1}
Die römischen Machthaber sahen mit Schrecken, bis zu welcher Stärke die Stimmung gegen sie angeschwollen war. Obgleich sie anfangs über den vermeintlichen Tod Luthers frohlockten, wünschten sie bald, sich vor dem Zorn des Volkes zu verbergen. Seine Feinde waren durch die kühnsten Handlungen während seines Verweilens unter ihnen nicht so beunruhigt worden wie durch sein Verschwinden. Die in ihrer Wut den kühnen Reformator umbringen wollten, wurden mit Furcht erfüllt, als er ein hilfloser Gefangener war. „Es bleibt uns nur das Rettungsmittel übrig“, sagte einer, „daß wir Fackeln anzünden und Luther in der Welt aufsuchen, um ihn dem Volke, das nach ihm verlangt, wiederzugeben.“ (D‘Aubigné, „Geschichte der Reformation“, 9.Buch, 1.Abschnitt, 5) Der Erlaß des Kaisers schien wirkungslos zu sein, und die päpstlichen Gesandten zeigten sich entrüstet, als sie sahen, daß dem Erlaß des Kaisers weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde als dem Schicksal Luthers. {GK 185.2}
Die Kunde, daß er, wenngleich ein Gefangener, doch in Sicherheit sei, beruhigte zwar die Befürchtungen des Volkes, steigerte aber noch dessen Begeisterung für ihn. Seine Schriften wurden mit größerem Verlangen gelesen als je zuvor. Eine stetig wachsende Zahl schloß sich der Sache des heldenmütigen Mannes an, der gegen eine so ungeheure Übermacht das Wort Gottes verteidigt hatte. Die Reformation gewann fortwährend an Stärke. Der von Luther gesäte Same ging überall auf. In seiner Abwesenheit wuchs eine Bewegung, die sich in seiner Anwesenheit niemals entfaltet hätte. Andere Mitarbeiter fühlten jetzt, da der große Reformator verschwunden war, eine ernste Verantwortlichkeit. Mit neuem Glauben und Eifer strebten sie voran, um alles in ihrer Macht stehende zu tun, damit das so vortrefflich begonnene Werk nicht gehindert würde. {GK 185.3}
Satan war jedoch auch nicht müßig. Er versuchte, was er bei jeder andern Reformbestrebung versucht hatte — das Volk zu täuschen und zu verderben, indem er an Stelle des wahren Werkes eine Nachahmung unterschob. Wie im ersten Jahrhundert der christlichen Gemeinde immer wieder falsche Christusse aufstanden, so erhoben sich auch im sechzehnten Jahrhundert verschiedene falsche Propheten. {GK 186.1}
Etliche Männer, durch die Erregung in der religiösen Welt tief ergriffen, bildeten sich ein, besondere Offenbarungen vom Himmel erhalten zu haben, und erhoben den Anspruch, von Gott beauftragt zu sein, das Werk der Reformation, das Luther nur eben erst begonnen hatte, zu vollenden. In Wahrheit rissen sie gerade das nieder, was er aufgebaut hatte. Sie verwarfen den Hauptgrundsatz, die wahre Grundlage der Reformation — das Wort Gottes als die allgenügsame Glaubens- und Lebensregel —, und setzten an die Stelle jener untrüglichen Richtschnur den veränderlichen, unsicheren Maßstab ihrer eigenen Gefühle und Eindrücke. Dadurch wurde der große Prüfstein des Irrtums und des Betrugs beseitigt und Satan der Weg geöffnet, die Gemüter zu beherrschen, wie es ihm am besten gefiel. {GK 186.2}
Einer dieser Propheten behauptete, von dem Engel Gabriel unterrichtet worden zu sein. Ein Student, der sich mit ihm zusammentat, verließ seine Studien und erklärte, von Gott selbst die Weisheit empfangen zu haben, die Schrift auslegen zu können. Andere, die von Natur aus zur Schwärmerei neigten, verbanden sich mit ihnen. Das Vorgehen dieser Schwarmgeister rief keine geringe Aufregung hervor. Luthers Predigten hatten überall das Volk geweckt, um die Notwendigkeit einer Reform einzusehen, und nun wurden manche wirklich redlichen Seelen durch die Behauptungen der neuen Propheten irregeleitet. {GK 186.3}
Die Anführer dieser Bewegung begaben sich nach Wittenberg und nötigten Melanchthon und seinen Mitarbeitern ihre Ansprüche auf. Sie sagten: „Wir sind von Gott gesandt, das Volk zu unterweisen. Wir haben vertrauliche Gespräche mit Gott und sehen in die Zukunft, wir sind Apostel und Propheten und berufen uns auf den Doktor Luther.“ (D‘Aubigné, ebd., 9.Buch, 7.Abschnitt, 42f.){GK 187.1}
Die Reformatoren waren erstaunt und verlegen. Diese Richtung hatten sie nie zuvor angetroffen, und sie wußten nicht, welchen Weg sie nun einschlagen sollten. Melanchthon sagte: „Diese Leute sind ungewöhnliche Geister, aber was für Geister? … Wir wollen den Geist nicht dämpfen, aber uns auch vom Teufel nicht verführen lassen.“ (D‘Aubigné, ebd., 9.Buch, 7.Abschnitt, 42f.){GK 187.2}
Die Früchte dieser neuen Lehre wurden bald offenbar. Das Volk wurde verleitet, die Bibel zu vernachlässigen oder gänzlich zu verwerfen. Die Hochschulen wurden in Verwirrung gestürzt. Studenten widersetzten sich allen Verboten, gaben ihr Studium auf und zogen sich von der Universität zurück. Die Männer, die sich selbst als zuständig betrachteten, das Werk der Reformation wieder zu beleben und zu leiten, brachten sie bis an den Rand des Untergangs. Die Römlinge gewannen nun ihre Zuversicht wieder und riefen frohlockend aus: „Noch ein Versuch … und alles wird wiedergewonnen.“ (D‘Aubigné, ebd., 9.Buch, 7.Abschnitt, 42f.){GK 187.3}
Als Luther auf der Wartburg hörte, was vorging, sagte er in tiefem Kummer: „Ich habe immer gewartet, daß Satan uns eine solche Wunde versetzen würde.“ (D‘Aubigné, ebd., 9.Buch, 7.Abschnitt, 42f.){GK 187.4}
Der Reformator erkannte den wahren Charakter jener angeblichen Propheten und sah die Gefahr, die der Wahrheit drohte. Der Widerstand des Papstes und des Kaisers hatte ihm nicht so große Unruhe und Kummer verursacht, wie er nun durchlebte. Aus den angeblichen Freunden der Reformation waren die schlimmsten Feinde geworden. Gerade die Wahrheiten, die ihm in erheblichem Maße Freude und Trost gebracht hatten, wurden jetzt benutzt, um Zwiespalt und Verwirrung in der Gemeinde zu stiften. {GK 187.5}
Bei den Reformbestrebungen war Luther vom Geist Gottes angetrieben und über sich selbst hinausgeführt worden. Er hatte nicht beabsichtigt, die Stellung, die er jetzt einnahm, jemals einzunehmen oder so durchgreifende Veränderungen durchzuführen. Er war nur das Werkzeug Gottes gewesen. Doch fürchtete er oft die Folgen seines Werkes und sagte einmal: „Wüßte ich, daß meine Lehre einem einfältigen Menschen schadete (und das kann sie nicht, denn sie ist das Evangelium selbst), so möchte ich eher zehn Tode leiden, als nicht widerrufen.“ (D‘Aubigné, ebd., 9.Buch, 7.Abschnitt, 42f.){GK 187.6}
Jetzt aber fiel Wittenberg selbst, der eigentliche Mittelpunkt der Reformation, schnell unter die Macht des Fanatismus und der Gesetzlosigkeit. Dieser schreckliche Zustand wurde nicht durch Luthers Lehren verursacht, und doch warfen seine Feinde in ganz Deutschland die Schuld auf ihn. Bitterkeit in seinem Herzen, fragte er zuweilen: „Dahin sollt es mit der Reformation kommen?“ Wenn er aber mit Gott im Gebet rang, zog Friede in sein Herz ein: „Gott hat das angefangen, Gott wird es wohl vollenden.“ (D‘Aubigné, ebd., 9.Buch, 7.Abschnitt, 42f.)„Du wirst es nicht dulden, daß es durch Aberglauben und Fanatismus verderbt wird.“ Doch der Gedanke, in dieser entscheidenden Zeit noch länger von dem Schauplatz des Kampfes fern zu sein, wurde ihm unerträglich; er entschloß sich, nach Wittenberg zurückzukehren. {GK 188.1}
Unverzüglich trat er seine gefahrvolle Reise an. Er stand unter der Reichsacht. Seine Feinde konnten ihm jederzeit ans Leben gehen; seinen Freunden war es untersagt, ihm zu helfen oder ihn zu beschützen. Die kaiserliche Regierung ergriff die strengsten Maßregeln gegen seine Anhänger. Aber er sah, das Evangeliumswerk war gefährdet, und im Namen des Herrn ging er furchtlos für die Wahrheit in den Kampf. {GK 188.2}
In einem Schreiben an den Kurfürsten erklärte Luther, nachdem er seine Absicht, die Wartburg zu verlassen, ausgesprochen hatte: „Eure Kurfürstliche Gnaden wisse, ich komme gen Wittenberg in gar viel einem höhern Schutz denn des Kurfürsten. Ich hab‘s auch nicht im Sinne, von Eurer Kurfürstlichen Gnaden Schutz zu begehren. Ja, ich halt, ich wolle Eure Kurfürstlichen Gnaden mehr schützen, denn sie mich schützen könnte. Dazu wenn ich wüßte, daß mich Eure Kurfürstenlichen Gnaden könnte und wollte schützen, so wollte ich nicht kommen. Dieser Sache soll noch kann kein Schwert raten oder helfen, Gott muß hier allein schaffen, ohne alles menschliche Sorgen und Zutun. Darum, wer am meisten glaubt, der wird hier am meisten schützen.“ (D‘Aubigné, ebd., 9.Buch, 8.Abschnitt, 53f.){GK 188.3}
In einem zweiten Brief, den er auf dem Weg nach Wittenberg verfaßte, fügte Luther hinzu: „Ich will Eurer Kurfürstlichen Gnaden Ungunst und der ganzen Welt Zorn ertragen. Die Wittenberger sind meine Schafe. Gott hat sie mir anvertraut. Ich muß mich für sie in den Tod begeben. Ich fürchte in Deutschland einen großen Aufstand, wodurch Gott unser Volk strafen will.“ (D‘Aubigné, ebd., 9.Buch, 8.Abschnitt, 53f.){GK 189.1}
Vorsichtig und demütig, doch fest und entschlossen begann er sein Werk. „Mit dem Worte“, sagte er, „müssen wir streiten, mit dem Worte stürzen, was die Gewalt eingeführt hat. Ich will keinen Zwang gegen Aber- und Ungläubige … Keiner soll zum Glauben und zu dem, was des Glaubens ist, gezwungen werden.“ (D‘Aubigné, ebd., 9.Buch, 8.Abschnitt, 53f.){GK 189.2}
Bald wurde in Wittenberg bekannt, daß Luther zurückgekehrt sei und predigen wolle. Das Volk strömte aus allen Richtungen herbei, und die Kirche war überfüllt. Luther bestieg die Kanzel und lehrte, ermahnte und tadelte mit großer Weisheit und Güte. Indem er auf die Handlungsweise etlicher hinwies, die sich der Gewalt bedient hatten, um die Messe abzuschaffen, sagte er: {GK 189.3}
„Die Messe ist ein böses Ding, und Gott ist ihr Feind; sie muß abgetan werden, und ich wollte, daß in der ganzen Welt allein die gemeine evangelische Messe gehalten würde. Doch soll man niemand mit dem Haar davonreißen, denn Gott soll man hierin die Ehre geben und sein Wort allein wirken lassen, nicht unser Zutun und Werk. Warum? Ich habe nicht in meiner Hand die Herzen der Menschen, wie der Hafner den Leimen. Wir haben wohl das Recht der Rede, aber nicht das Recht der Vollziehung. Das Wort sollen wir predigen, aber die Folge soll allein in seinem Gefallen sein. So ich nun darein falle, so wird dann aus dem Gezwang oder Gebot ein Spiegelfechten, ein äußerlich Wesen, ein Affenspiel, aber da ist kein gut Herz, kein Glaube, keine Liebe. Wo diese drei fehlen, ist ein Werk nichts; ich wollte nicht einen Birnstiel darauf geben … Also wirkt Gott mit seinem Wort mehr, denn wenn du und ich alle Gewalt auf einen Haufen schmelzen. Also wenn du das Herz hast, so hast du ihn nun gewonnen … {GK 189.4}
Predigen will ich‘s, sagen will ich‘s, schreiben will ich‘s; aber zwingen, dringen mit der Gewalt will ich niemand, denn der Glaube will willig und ohne Zwang angezogen werden. Nehmt ein Exempel an mir. Ich bin dem Ablaß und allen Papisten entgegen gewesen, aber mit keiner Gewalt. Ich hab allein Gottes Wort getrieben, gepredigt und geschrieben, sonst hab ich nichts getan. Das hat, wenn ich geschlafen habe … also viel getan, daß das Papsttum also schwach geworden ist, daß ihm noch nie kein Fürst noch Kaiser so viel abgebrochen hat. Ich habe nichts getan, das Wort Gottes hat es alles gehandelt und ausgericht. Wenn ich hätte wollen mit Ungemach fahren, ich wollte Deutschland in ein groß Blutvergießen gebracht haben. Aber was wär es? Ein Verderbnis an Leib und Seele. Ich habe nichts gemacht, ich habe das Wort Gottes lassen handeln.“ (D‘Aubigné, ebd., 9.Buch 8.Abschnitt, 53f.){GK 189.5}
Tag um Tag, eine Woche lang, predigte Luther der aufmerksam lauschenden Menge. Das Wort Gottes brach den Bann der fanatischen Erregung. Die Macht des Evangeliums brachte das irregeleitete Volk auf den Weg der Wahrheit zurück. – {GK 190.1}
Luther zeigte kein Verlangen, den Schwärmern zu begegnen, deren Verhalten so viel Unheil angerichtet hatte. Er kannte sie als Menschen mit unzuverlässigem Urteil und unbeherrschten Leidenschaften, die zwar behaupteten, vom Himmel besonders erleuchtet zu sein, aber weder geringsten Widerspruch noch wohlwollenden Tadel oder Rat vertrugen. Sie maßten sich höchste Autorität an und verlangten von allen, als solche ohne jeden Widerspruch anerkannt zu werden. Als sie aber auf eine Unterredung drangen, willigte er ein. Bei dieser Gelegenheit entlarvte er ihre Anmaßungen so gründlich, daß die Betrüger Wittenberg sofort wieder verließen. {GK 190.2}
Der Schwärmerei war eine Zeitlang Einhalt geboten; einige Jahre später brach sie jedoch heftiger und schrecklicher wieder hervor. Luther sagte über die Führer dieser Bewegung: „Die Heilige Schrift war für sie nichts als ein toter Buchstabe, und alle schrien: Geist! Geist! Aber wahrlich, ich gehe nicht mit ihnen, wohin ihr Geist sie führt. Der barmherzige Gott behüte mich ja vor der christlichen Kirche, darin lauter Heilige sind. Ich will da bleiben, wo es Schwache, Niedrige, Kranke gibt, welche ihre Sünde kennen und empfinden, welche unablässig nach Gott seufzen und schreien aus Herzensgrund, um seinen Trost und Beistand zu erlangen.“ {GK 190.3}
Thomas Münzer, der eifrigste unter den Schwärmern, war ein Mann mit bemerkenswerten Anlagen, die ihn, richtig geleitet, befähigt hätten, Gutes zu tun; aber er hatte nicht einmal die einfachsten Grundsätze wahrer Religion begriffen. „Er war von dem Wunsche besessen, die Welt zu reformieren, und vergaß dabei, wie alle Schwärmer, daß die Reform bei ihm selbst beginnen mußte.“ Er hatte den Ehrgeiz, Stellung und Einfluß zu gewinnen und wollte niemandem nachstehen, nicht einmal Luther. Er erklärte, daß die Reformatoren, die die Autorität des Papstes durch die der Heiligen Schrift ersetzten, nur eine andere Form des Papsttums aufrichteten. Er selbst betrachtete sich als von Gott berufen, die wahre Reformation einzuführen. „Wer diesen Geist besitzt“, sagte Münzer, „besitzt den wahren Glauben, und wenn er niemals in seinem Leben die Heilige Schrift zu Gesicht bekäme.“ {GK 191.1}
Die schwärmerischen Lehrer ließen sich von Eindrücken leiten, indem sie jeden Gedanken und jede Eingebung als die Stimme Gottes ansahen; infolgedessen begingen sie die größten Übertreibungen. Einige verbrannten sogar ihre Bibeln, wobei sie ausriefen: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ Münzers Lehre kam dem Verlangen der Menschen nach dem Wunderbaren entgegen, während es ihren Stolz befriedigte, wenn menschliche Ideen und Meinungen über das Wort Gottes erhoben wurden. Tausende nahmen seine Lehren an. Er rügte jede Art öffentlichen Gottesdienstes und erklärte, den Fürsten gehorchen hieße versuchen, Gott und Belial zu dienen. {GK 191.2}
Die Menschen, die das Joch des Papsttums abzuwerfen begannen, wurden nunmehr auch ungeduldig unter den Einschränkungen der weltlichen Obrigkeit. Münzers revolutionäre Lehren, für die er göttliche Eingebung beanspruchte, führten sie dahin, allen Zwang abzuschütteln und ihren Vorurteilen und Leidenschaften freien Lauf zu lassen. Schreckliche Szenen von Aufruhr und Aufständen folgten, und der Boden Deutschlands wurde mit Blut getränkt. {GK 191.3}
Der Seelenkampf, den Luther lange vorher in Erfurt durchlebt hatte, bedrängte ihn nun doppelt, als er die Folgen der Schwärmerei sah, die man der Reformation zur Last legte. Die päpstlichen Fürsten erklärten — und viele waren bereit, dem Glauben zu schenken —, der Bürgerkrieg sei die natürliche Folge der Lehren Luthers. Obwohl diese Behauptung jeder Grundlage entbehrte, brachte sie den Reformator doch in große Verlegenheit. Daß die Sache der Wahrheit mit der niedrigsten Schwärmerei auf eine Stufe gestellt und auf diese Weise herabgewürdigt wurde, schien Luther unerträglich. Anderseits haßten die empörerischen Führer ihn, weil er nicht nur ihre Lehren angriff und ihren Anspruch auf göttliche Eingebung bestritt, sondern weil er sie als Rebellen gegen die weltliche Obrigkeit bezeichnete. Als Vergeltung nannten sie ihn einen Erzscharlatan. Ihm schien es, als habe er sowohl die Feindschaft der Fürsten als auch die des Volkes auf sich gezogen. {GK 191.4}
Die Katholiken frohlockten und erwarteten, Zeugen des baldigen Niedergangs der Reformation zu sein; und sie beschuldigten Luther sogar der Irrtümer, um deren Richtigstellung er am meisten bemüht gewesen war. Der schwärmerischen Partei gelang es schließlich mit der Behauptung, ungerecht behandelt worden zu sein, immer mehr Sympathien unter dem Volk zu gewinnen und, wie dies oft der Fall ist bei denen, die einen falschen Weg einschlagen, für Märtyrer gehalten zu werden. So wurden diejenigen, die sich der Reformation mit aller Energie widersetzten, als Opfer der Grausamkeit und Unterdrückung bemitleidet und gepriesen. Das war Satans Werk, angetrieben von dem gleichen aufrührerischen Geist, der sich zuerst im Himmel bekundet hatte. {GK 192.1}
Satan ist ständig bemüht, die Menschen zu täuschen und zu verleiten, die Sünde Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit Sünde zu nennen. Wie erfolgreich ist sein Werk gewesen! Wie oft werden Gottes treue Diener getadelt und mit Vorwürfen überhäuft, weil sie furchtlos die Wahrheit verteidigen! Menschen, die nur Werkzeuge Satans sind, werden gepriesen und mit Schmeicheleien überschüttet, ja sogar als Märtyrer angesehen, während die, welche wegen ihrer Treue zu Gott geachtet und unterstützt werden sollten, unter Verdacht und Mißtrauen alleinstehen müssen. {GK 192.2}
Unechte Heiligkeit und falsche Heiligung verrichten noch immer ihr betrügerisches Werk. In ihren verschiedenen Formen zeigen sie den gleichen Geist wie in Luthers Tagen, lenken die Gemüter von der Heiligen Schrift ab und verleiten die Menschen, lieber ihren eigenen Gefühlen und Eindrücken zu folgen, als dem Gesetz Gottes Gehorsam zu zollen. Hierin liegt eine der erfolgreichsten Anschläge Satans, die Reinheit und die Wahrheit herabzuwürdigen. {GK 192.3}
Furchtlos verteidigte Luther das Evangelium gegen die von allen Seiten losbrechenden Angriffe. Das Wort Gottes erwies sich als eine mächtige Waffe in jedem Streit. Mit diesem Wort kämpfte er gegen die angemaßte Autorität des Papstes und die vernunftgemäße Philosophie der Gelehrten, und damit widerstand er ebenso fest wie ein Fels der Schwärmerei, die sich mit der Reformation vergeblich zu verbinden suchte. {GK 193.1}
Alle gegnerischen Strömungen setzten auf ihre Art die Heilige Schrift beiseite und erhoben menschliche Weisheit zur Quelle religiöser Wahrheit und Erkenntnis. Der Rationalismus vergöttert die Vernunft und macht sie zum Maßstab der Religion. Die römisch-katholische Kirche, die für den Papst eine unmittelbar von den Aposteln überkommene und für alle Zeiten unwandelbare Inspiration (göttliche Eingebung) beansprucht, bietet genügend Beispiele von Ausschweifung und Entartung, was allerdings unter der Heiligkeit des apostolischen Auftrags verheimlicht bleiben mußte. Die Eingebung, auf die sich Münzer und seine Anhänger beriefen, stammte aus den wunderlichen Einfällen ihrer Einbildungskraft; ihr Einfluß untergrub sowohl die menschliche als auch die göttliche Autorität. Wahre Christen betrachten die Heilige Schrift als die Schatzkammer der von Gott eingegebenen Wahrheit und als Prüfstein für jede Eingebung. {GK 193.2}
Nach seiner Rückkehr von der Wartburg vollendete Luther seine Übersetzung des Neuen Testaments, und bald wurde das Evangelium dem deutschen Volk in seiner eigenen Sprache gegeben. Diese Übersetzung nahmen alle, die die Wahrheit liebten, mit großer Freude auf, wurde aber von denen, die menschliche Überlieferungen und Menschengebote vorzogen, höhnisch verworfen. {GK 193.3}
Die Priester beunruhigte der Gedanke, daß das gemeine Volk jetzt fähig sein würde, mit ihnen die Lehren des Wortes Gottes zu besprechen und daß ihre eigene Unwissenheit dadurch ans Licht käme. Die Waffen ihrer menschlichen Vernunft waren machtlos gegen das Schwert des Geistes. Rom bot seinen ganzen Einfluß auf, um die Verbreitung der Heiligen Schrift zu hindern; aber Dekrete, Bannflüche und Folter blieben gleich wirkungslos. Je entschiedener die Bibel verdammt und verboten wurde, desto stärker verlangte das Volk zu erfahren, was sie wirklich lehre. Alle, die lesen konnten, waren begierig, das Wort Gottes selber zu erforschen. Sie trugen das Neue Testament bei sich, sie lasen es wieder und wieder und waren nicht eher zufrieden, bis sie große Teile auswendig gelernt hatten. Als Luther sah, mit welcher Gunst das Neue Testament aufgenommen wurde, machte er sich unverzüglich an die Übersetzung des Alten Testaments und veröffentlichte Teile davon, sobald sie fertig waren. {GK 193.4}
Luthers Schriften wurden in Stadt und Land gleich günstig aufgenommen. „Was Luther und seine Freunde schrieben, wurde von andern verbreitet. Mönche, welche sich von der Ungesetzlichkeit der Klostergelübde überzeugt hatten und nach ihrer langen Untätigkeit ein arbeitsames Leben führen wollten, aber für die Predigt des göttlichen Wortes zu geringe Kenntnisse besaßen, durchstreiften die Provinzen, um Luthers Bücher zu verkaufen. Es gab bald sehr viele dieser mutigen Hausierer.“ (D‘Aubigné, ebd., 9.Buch, 11.Abschnitt, 88) {GK 194.1}
Sehr aufmerksam wurden diese Schriften von Reichen und Armen, Gelehrten und Laien durchforscht. Abends lasen die Dorfschullehrer sie kleinen um den Herd versammelten Gruppen laut vor. Bei jeder dieser Bemühungen wurden einige Seelen von der Wahrheit überzeugt, nahmen das Wort freudig auf und erzählten andern wiederum die frohe Kunde. {GK 194.2}
Die Worte der Bibel bewahrheiteten sich: „Wenn dein Wort offenbar wird, so erfreut es und macht klug die Einfältigen.“ Psalm 119,130. Das Erforschen der Heiligen Schrift bewirkte eine durchgreifende Veränderung in den Gemütern und Herzen des Volkes. Die päpstliche Herrschaft hatte ihren Untertanen ein eisernes Joch auferlegt, das sie in Unwissenheit und Erniedrigung hielt. Gewissenhaft hatte man eine abergläubische Wiederholung von Formen befolgt; aber an all diesem Dienst war der Anteil von Herz und Verstand nur gering. Luthers Predigten, die die eindeutigen Wahrheiten des Wortes Gottes hervorhoben, und das Wort selbst, das, in die Hände des Volkes gelegt, seine schlafenden Kräfte geweckt hatte, reinigten und veredelten nicht nur die geistliche Wesensart, sondern verliehen dem Verstand neue Kraft und Stärke. {GK 194.3}
Personen aller Stände konnte man mit der Bibel in der Hand die Lehren der Reformation verteidigen sehen. Die Päpstlichen, die das Studium der Heiligen Schrift den Priestern und Mönchen überlassen hatten, forderten diese jetzt auf, herauszugehen und die neuen Lehren zu widerlegen. Aber die Priester und Mönche, welche die Heilige Schrift und die Kraft Gottes nicht kannten, waren denen, die sie als ketzerisch und ungelehrt angeklagt hatten, vollkommen unterlegen. „Leider“, sagte ein katholischer Schriftsteller, „hatte Luther den Seinigen eingebildet, man dürfe nur den Aussprüchen der heiligen Bücher Glauben schenken.“ (D‘Aubigné, ebd., 9.Buch, 11.Abschnitt, 86f.) Ganze Scharen versammelten sich, um zu hören, wie Männer von nur geringer Bildung die Wahrheit verteidigten, ja sich sogar mit gelehrten und beredten Theologen auseinandersetzten. Die schmähliche Unwissenheit der großen Männer wurde offenbar, als man ihren Beweisführungen die einfachen Lehren des Wortes Gottes entgegenstellte. Handwerker und Soldaten, Frauen und selbst Kinder waren mit den Lehren der Bibel vertrauter als die Priester und die gelehrten Doktoren. {GK 194.4}
Der Unterschied zwischen den Jüngern des Evangeliums und den Verteidigern des päpstlichen Aberglaubens gab sich nicht minder in den Reihen der Gelehrten als unter dem gewöhnlichen Volk zu erkennen. „Die alten Stützen der Hierarchie hatten die Kenntnis der Sprachen und das Studium der Wissenschaft vernachlässigt, ihnen trat eine studierende, in der Schrift forschende, mit den Meisterwerken des Altertums sich befreundende Jugend entgegen. Diese aufgeweckten Köpfe und unerschrockenen Männer erwarben sich bald solche Kenntnisse, daß sich lange Zeit keiner mit ihnen messen konnte … Wo die jungen Verteidiger der Reformation mit den römischen Doktoren zusammentrafen, griffen sie diese mit solcher Ruhe und Zuversicht an, daß diese unwissenden Menschen zögerten, verlegen wurden und sich allgemein gerechte Verachtung zuzogen.“ (D‘Aubigné, ebd., 9.Buch, 11.Abschnitt, 86f.) {GK 195.1}
Als die römischen Geistlichen sahen, daß ihre Zuhörerschar geringer wurde, riefen sie die Hilfe der Behörden an und versuchten, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln ihre Anhänger zurückzugewinnen. Aber das Volk hatte in den neuen Lehren das gefunden, was die Bedürfnisse der Seele befriedigte, und wandte sich von jenen ab, die es so lange mit wertlosen Trebern abergläubischer Gebräuche und menschlicher Überlieferungen gespeist hatten. {GK 195.2}
Als gegen die Lehrer der Wahrheit die Verfolgung entbrannte, beachteten diese die Worte Christi: „Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen, so fliehet in eine andere.“ Matthäus 10,23. Das Licht drang überallhin. Die Flüchtenden fanden irgendwo eine gastfreundliche Tür, die sich ihnen auftat, und dort einkehrend, predigten sie Christus, ganz gleich, ob es in der Kirche war oder, wenn ihnen dieser Vorzug versagt wurde, in Privatwohnungen oder unter freiem Himmel. Wo man ihnen Gehör schenkte, war für sie ein geweihter Tempel. Die mit solcher Tatkraft und Zuversicht verkündigte Wahrheit verbreitete sich mit unwiderstehlicher Kraft. {GK 196.1}
Vergebens riefen die Römlinge die kirchliche und die weltliche Obrigkeit an, die Ketzerei zu unterdrücken. Ohne Erfolg blieben Gefängnis, Folter, Feuer und Schwert. Tausende von Gläubigen besiegelten ihren Glauben mit ihrem Blut, und doch ging das Werk vorwärts. Die Verfolgung diente nur dazu, die Wahrheit auszubreiten, und die auf Satans Antrieb mit ihr verbundene Schwärmerei bewirkte, daß der Unterschied zwischen dem Werk Gottes und dem Werk Satans um so deutlicher hervortrat. {GK 196.2}
aus „Der Große Kampf“, von Ellen G. White, S.185-196, Saatkornverlag Hamburg, 1973; Herausgeber der hier verwendeten digitalen Ausführung: Ellen G. White Estate, Inc., www.egwwritings.org; weiterlesen bei https://www.egwwritings.org/