Im 16. Jahrhundert breiteten sich, ausgehend von den reformerischen Bemühungen des 15. Jh., reformatorische Ideen verstärkt in etlichen Ländern Mittel-, West- und Nordeuropas aus und schwächten die Autorität der katholischen Kirche. Dabei waren es in vielen Fällen keine reinen Volksbewegungen, die den Anstoß gaben – auch wenn die reformatorischen Ideen ohne die breite Akzeptanz und Sympathie in der Bevölkerung nicht eine solche Tragkraft hätten erlangen können – sondern einzelne Personen, oft Mitglieder des Klerus,[1] die sich zunehmend von gewissen Praktiken und Lehren der katholischen Kirche distanzierten und mit der von ihnen geäußerten Kritik in breiten Kreisen der Gesellschaft auf Zustimmung stießen.

Wie auch mittelalterliche Kleriker vor ihm, die in Widerspruch zur katholischen Lehre und Praxis gerieten, etwa John Wyclif und Jan Hus,[2] wurde Luther als Häretiker deklamiert und gebannt. Aber wie auch bei Wyclif und Hus war diese Entwicklung weder vorgegeben noch vorhersehbar, denn Luther war nach eigenen Angaben „ein frommer Mönch“[3] gewesen und ein treuer Sohn der Kirche, der bei seiner Ankunft in Rom 1510 ausgerufen haben soll: „Sey mir gegrüßt, du heiliges Rom!“[4] Er war einer, der eine juristische Laufbahn aufgab, um 1505 gegen den Willen des Vaters im Erfurter Kloster der Augustiner-Eremiten um Aufnahme zu bitten, 1506 regulärer Mönch wurde, 1507 die Priesterweihe erhielt, danach Theologie studierte, schon seit 1508 Vorlesungen hielt und 1512 in Wittenberg zum Doktor der Theologie promoviert wurde, eine Professur an der Universität Wittenberg innehatte sowie weitere Ämter[5], und im Predigtdienst stand. Ein „rascher Aufstieg in der Ordenshierarchie, insbesondere bei einem so verhältnismäßig jungen Mann“.[6]

Doch der „Absturz“ folgte rasch. Schon Anfang 1518, kurz nach der Veröffentlichung seiner 95 Thesen, erhob sich Widerstand gegen Luther und er wurde als Ketzer bezeichnet.[7] Am 15.6.1520 wurde die Bannandrohungsbulle veröffentlicht und am 3.1.1521 von Leo X. in der Bulle Decet Romanum Pontificem über Luther der Kirchenbann ausgesprochen. Im Mai 1521 verhängt Kaiser Karl V. die Reichsacht über ihn. Aus dem Mönch, Priester, Doktor der Theologie und Theologieprofessor wurde nun „der böss veinde in gestalt eins menschen mit angenomer münchskuten, manicher ketzer aufs höchst verdampter ketzereien […]“[8].

Doch was machte ihn dazu? Was warf man ihm vor? Dabei sollen nicht die Ereignisse und Entwicklungen beleuchtet werden, die Luther in Widerspruch zur akzeptierten katholischen Lehre und Praxis brachten, sondern es soll kurz angerissen werden, welche grundsätzlichen Haltungen und Herangehensweisen man ihm als ketzerisch vorwarf.

Es war nicht bloß Kritik an den Missbräuchen in der Kirche, nicht bloß der Ruf nach einer Reform, was ihn zum Ketzer machte – es war das Aufstellen, Aufrechterhalten und Verbreiten neuer Lehren (trotz Verbot), die sich auf die Bibel beriefen und gleichzeitig den Lehren der Kirche, die ja für sich in Anspruch nahm, der Bibel Kraft und Geltung zu verschaffen (sie also richtig auszulegen),[9] widersprachen. Denn diese „Gegenlehren“ führten zu Spaltungen, zerstörten das Monopol der Kirche in Sachen Religion, machten dem Papsttum Anhänger abspenstig und schwächten seine Autorität, kurz gesagt, sie bedrohten die kirchliche Machtposition. Was Luther zum Ketzer machte, war seine Weigerung, die Bibel gemäß der „Lehre der römischen Kirche und des römischen Pabstes […]“[10] auszulegen, das Pochen auf das Recht, sie selber auszulegen, auch abweichend von der kirchlichen Interpretation, sowie der Anspruch, seine Interpretation biblischer Aussagen auch als Maßstab an Kirche und Papst anzulegen.

Kupferstich von Lukas Cranach d.Ä., Luther mit dem Doktorhut, 1521.

Das führte dazu, dass Luther die Lehrautorität von Kurie, Konzilien und Papst ebenso ablehnte wie andere Kompetenzen, die dem Papst und den Konzilien zugesprochen wurden, wie bspw. die Binde- und Lösegewalt des Papstes über den Tod hinaus oder die Wirksamkeit der Verdammung und Exkommunikation durch den Papst. So warf Luther dem Papst, der Kurie und den Konzilien (je länger je mehr) Irrtümer, falsche Ansprüche und Lehren vor, bis hin zu dem Vorwurf, der Papst sei der Antichrist, der Widersacher Christ und nicht der von Gott eingesetzte, legitime Stellvertreter Christi auf Erden. Dazu weigerte er sich, die Irrtumslosigkeit der Konzilien und Päpste anzuerkennen, die zwar 1518 noch kein offizielles Dogma war,[11] von Prieras aber in dem Bemühen, einen Maßstab für Rechtgläubigkeit aufzustellen, 1518 in seiner Schrift De potestate papae dialogus de facto konstatiert wurde, auch, um eine Handhabe gegen Luther zu haben.

Danach hatte Luther, aus Sicht seiner Gegner, „eine schlechte Meinung in Betreff einer Wahrheit der Schrift […]“, zumindest gemäß der Auslegung der Kirche, und betreffs der Lehre und Handlungen der Kirche.[12] Laut der Bannandrohungsbulle war Luther ein Ketzer, weil er aus niederen Motiven eine von der Kirche abweichende Bibelauslegung, ein altes Merkmal der Ketzer, hervorbrachte.[13] In Decet Romanum Pontificem wurde ihm im Verein mit anderen „Bösen“ vorgeworfen, sich „neue und falsche Glaubenssätze auszudenken […] in Gottes Kirche Spaltungen hineinzutragen oder die Schismatiker selbst zu begünstigen […] die Einheit des Glaubens zu zerreißen […]“, was er bewerkstellige, indem er durch „Lügen und heimtückische Listen das einfache Volk täuschen, mit sich in denselben Irrtum und dasselbe Verderben ziehen […]“[14] würde. Diese Lügen, die abweichenden Lehren, waren vielfältig und berührten unterschiedliche theologische Bereiche, wie man gut anhand des Dialoges von Prieras und der Bannandrohungsbulle sehen kann. Etliche davon aber richteten sich gegen Autoritäts- und Kompetenzansprüche des Papsttums, welche sich wiederum in vielen Fällen auf neutestamentliche Texte stützten.[15]

Weil Luther sich jedoch bei der Widerlegung dieser Ansprüche auf seine Auslegung der Bibel sowie sein Urteil stützte, während die römisch-katholische Kirche sich als der „Hort“ der Wahrheit und des richtigen Schriftverständnisses ansah,[16] und eine allgemein verbindliche Bibelauslegung und Definition dessen, was „gesunde“ christliche Lehre sei, gewissermaßen als göttlich verliehene Prärogative betrachtete (was Luther negierte [17]), entstand ein Autoritätskonflikt, den die Kirche für sich löste, indem sie Luther zum Ketzer erklärte. Das schwingt auch in Leos X. Breve vom 8.7.1520 an Friedrich den Weisen mit, worin steht, Luther habe sich in einen so zügellosen Wahnsinn hineingesteigert, dass er in seinen Verkündigungen einzig und allein seine eigene Autorität, sein Urteil, sein Schriftverständnis allen anderen Verlautbarungen von Universitäten, Kirchenlehrern, ökumenischen Konzilien oder Päpsten vorangestellt.[18]

Da die römische Kirche einen Großteil ihres Vollmachtanspruchs auf Texte aus dem NT stützt, rüttelte darüber hinaus der Vorwurf Luthers, dass gewisse kirchliche Interpretationen biblischer Texte falsch seien, sie sich Kompetenzen und Machtansprüche ohne wirkliche göttliche (resp. biblische) Legitimation angemaßt habe, nicht nur an ihrem Selbstverständnis, ihrer Würde und Autorität, sondern auch an den Grundfesten ihrer Macht. Deshalb war Luther so gefährlich für die Kirche, viel gefährlicher als bloße Kritiker von Missständen. Wenn Luther auch anfangs nur Missstände kritisiert und an eine Reform gedacht hatte, so veränderte sich seine Sicht auf Kirche und Papst, ausgehend vor allem von seinem sich wandelnden Bibelverständnis, innerhalb weniger Jahre derart, dass er bald das Papsttum als Ganzes in Frage stellte und den Papst als Antichristen bezeichnete. Und da Luther nicht schweigen wollte, auch einen Widerruf verweigerte und seine verbalen Angriffe im Gegenteil immer furcht- und kompromissloser gegen das Papsttum fuhr, wurde er in dessen Einschätzung zum Häretiker, „tausendmal schlimmer als Arius, der Erzketzer der Spätantike“.[19]


Autor: Tina Eißner, Auszüge aus einer wissenschaftlichen Arbeit, vorgelegt an der Fernuniversität Hagen, 2022, im Masterstudiengang „Geschichte Europas“.


[1] Beispiele sind Luther, Zwingli und Calvin. Sowohl Luther als auch Hyldrych Zwingli hatten die Priesterweihe empfangen, Calvin erhielt einen Teil einer Pfründe der Kathedrale von Noyon und gehörte dadurch zum Klerus. Luther und Zwingli hatten Theologie studiert, Calvin „nur“ die septes artes liberales an der Universität von Paris, wonach er ursprünglich Theologie weiterstudieren sollte, dann aber zu Jura wechselte.

[2] Jan Hus hatte Theologie studiert und wurde zum Priester geweiht, ebenso wie John Wyclif.

[3] Johann Georg Walch (Hg.): Dr. Martin Luthers sämmtliche Schriften (2. Aufl.), Bd. 19, St. Louis 1907, Sp. 1845.

[4] Leopold Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 1, Berlin 1839, S. 299.

[5] Helmut Diwald, Luther. Eine Biographie, Bergisch Gladbach 1984, S. 82f.

[6] Diwald, Luther, S. 60.

[7] Siehe u.a. Köpf, Ulrich: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung. Bd. 3. Reformationszeit 1495-1555, Stuttgart 2001, S. 119.

[8] Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe, Bd. 2, Gotha 1896, S. 640-659, hier S. 648.

[9] Walch 18, Sp. 314.

[10] Ebd.

[11] Volker Reinhardt, Luther, der Ketzer: Rom und die Reformation, München 2016, S. 91.

[12] Walch 18, Sp. 315.

[13] Walch 15, Sp. 1429.

[14] Köpf, Geschichte, S. 163.

[15] Bspw. die These der Vorrangstellung des Petrus (unter den Jüngern), die sich vor allem auf Mt 16,18-19 stützt und eine der Grundlagen für die später vom römischen Bischof, aus dessen Amt das Amt des Papstes hervorging, beanspruchte Vormachtstellung war.

[16] Siehe die Grundsätze des Prieras, Walch 18, Sp. 314f.

[17] Er verwarf die Lehrautorität des Papstes und der Konzilien und lehrte, dass jeder die Bibel selber auslegen könne, weil Gott die Gläubigen durch den Heiligen Geist dazu befähige.

[18] Reinhardt, Luther, S. 126.

[19] Ebd., S. 147.