Die katholische Kirche hatte die Gnade Gottes zu einem Handelsgut herabgewürdigt. Die Tische der Geldwechsler waren neben den Altären aufgestellt, und das Geschrei der Käufer und Verkäufer erfüllte die Luft. (Vgl. Matthäus 21,12.) Unter dem Vorwand, Mittel für den Bau der Peterskirche in Rom zu erheben, wurden namens der Autorität des Papstes öffentlich Sündenablässe zum Verkauf angeboten. Mit Frevelgeld sollte ein Tempel zur Anbetung Gottes errichtet, der Grundstein mit Lösegeld von der Sünde gelegt werden. Aber gerade das zu Roms Erhebung ergriffene Mittel veranlaßte den tödlichsten Schlag gegen seine Macht und Größe, erweckte die entschlossensten und erfolgreichsten Gegner des Papsttums und führte zu dem Kampf, der den päpstlichen Thron erschütterte und die dreifache Krone auf dem Haupt des römischen Oberpriesters ins Wanken brachte. {GK 126.4; GC.127.1}

Der römische Beauftragte Tetzel, dazu bestimmt in Deutschland den Verkauf von Ablässen zu leiten, war der gemeinsten Vergehen gegen die menschliche Gesellschaft und das Gesetz Gottes überführt worden; nachdem er jedoch der seinen Verbrechen angemessenen Strafe entronnen war, wurde er mit der Förderung der gewinnsüchtigen und gewissenlosen Pläne des Papstes beauftragt. In herausfordernder Weise wiederholte er die schamlosesten Lügen und erzählte Wundergeschichten, um das unwissende, leichtgläubige und abergläubische Volk zu täuschen. Hätten sie das Wort Gottes besessen, wären sie nicht so hintergangen worden. Die Heilige Schrift wurde ihnen vorenthalten, damit sie unter der Herrschaft des Papsttums blieben und dazu beitrügen, die Macht und den Reichtum seiner ehrgeizigen Führer zu mehren. {GK 127.1; GC.127.2}

Jörg Breu d.Ä., um 1530, „Frage an einen Münzpräger, wohin doch soviel Geld komme, das man täglich münze.“ (Antwort: 1. Papst & Ablass, 2. Prägung minderwertiger Münzen, 3. betrügerische Kaufleute)“; Quelle: Wikipedia, Public Domain

Wenn der Dominikaner Tetzel, der den Ablaßhandel leitete, (Siehe Anm. 029) eine Stadt betrat, ging ein Bote vor ihm her und verkündigte: „Die Gnade Gottes und des heiligen Vaters ist vor den Toren.“ Und das Volk bewillkommnete den gotteslästerlichen Betrüger, daß „man hätte nicht wohl Gott selber schöner empfangen und halten können“. (v. Dorneth, „Martin Luther“, S. 102) Der schändliche Handel ging in der Kirche vor sich; Tetzel bestieg die Kanzel und pries die Ablässe als eine kostbare Gabe Gottes. Er erklärte, daß durch seine Ablaßzettel dem Käufer alle Sünden, „auch noch so ungeheuerliche, welche der Mensch noch begehen möchte“, verziehen würden. „Es wäre nicht Not, Reue noch Leid oder Buße für die Sünde zu haben“. Seine Ablässe besäßen die Kraft, Lebende und Tote zu retten; „wenn einer Geld in den Kasten legt für eine Seele im Fegfeuer, sobald der Pfennig auf den Boden fiel und klünge, so führe die Seele heraus gen Himmel.“ (Luther, EA, XXVI 69f., „Wider Hans Wurst“) {GK 127.2; GC.127.3}

Als Simon der Zauberer sich von den Aposteln die Macht, Wunder zu wirken, erkaufen wollte, antwortete ihm Petrus: „Daß du verdammt werdest mit deinem Gelde, darum daß du meinst, Gottes Gabe werde durch Geld erlangt!“ Apostelgeschichte 8,20. Aber Tetzels Anerbieten wurde von Tausenden gierig ergriffen. Gold und Silber flossen in seinen Kasten. Eine Seligkeit, die mit Geld erkauft werden konnte, war leichter zu erlangen als eine solche, die Reue, Glauben und eifrige Anstrengungen erforderte, der Sünde zu widerstehen und sie zu überwinden. {GK 128.1; GC.128.1}

Der Ablaßlehre hatten sich schon gelehrte und fromme Männer in der römischen Kirche widersetzt, und es gab viele, welche den Behauptungen, die der Vernunft und der Offenbarung zuwider waren, nicht vertrauten. Kein Geistlicher wagte es indessen, seine Stimme gegen diesen gottlosen Handel zu erheben; aber die Gemüter der Menschen wurden beunruhigt und ängstlich, und viele fragten sich ernsthaft, ob Gott nicht durch irgendein Werkzeug die Reinigung seiner Kirche bewirken würde. {GK 128.2; GC.128.2}

Obwohl Luther noch immer ein sehr eifriger Anhänger des Papstes war, erfüllten ihn die gotteslästerlichen Anmaßungen der Ablaßkrämer mit Entsetzen. Viele aus seiner eigenen Gemeinde hatten sich Ablaßbriefe gekauft und kamen bald zu ihrem Beichtvater, bekannten ihre verschiedenen Sünden und erwarteten Freisprechung, nicht weil sie bußfertig waren und sich bessern wollten, sondern auf Grund des Ablasses. Luther verweigerte ihnen die Freisprechung und warnte sie, daß sie, wenn sie nicht bereuten und ihren Wandel änderten, in ihren Sünden umkämen. In großer Bestürzung suchten sie Tetzel auf und klagten ihm, daß ihr Beichtvater seine Briefe verworfen habe; ja, einige forderten kühn die Rückgabe ihres Geldes. Der Mönch wurde zornig. Er äußerte die schrecklichsten Verwünschungen, ließ etliche Male auf dem Markt ein Feuer anzünden und „weiset damit, wie er vom Papste Befehl hätte, die Ketzer, die sich wider den Allerheiligsten, den Papst und seinen allerheiligsten Ablaß legten, zu verbrennen“. (Luther, Walch, XV, S. 471) {GK 128.3; GC.128.3}

Luther nahm nun kühn sein Werk als Kämpfer für die Wahrheit auf. Seine Stimme war in ernster, feierlicher Warnung von der Kanzel zu hören. Er zeigte dem Volk das Schändliche der Sünde und lehrte, daß es für den Menschen unmöglich sei, durch seine eigenen Werke die Schuld zu verringern oder der Strafe zu entrinnen. Nichts als die Buße vor Gott und der Glaube an Christus könne den Sünder retten. Gottes Gnade könne nicht erkauft werden; sie sei eine freie Gabe. Er riet dem Volk, keine Ablässe zu kaufen, sondern gläubig auf den gekreuzigten Erlöser zu schauen. Er erzählte seine eigene schmerzliche Erfahrung, als er umsonst versucht hatte, sich durch Demütigung und Buße Erlösung zu verschaffen, und versicherte seinen Zuhörern, daß er Friede und Freude gefunden habe, als er von sich selbst wegsah und an Christus glaubte. {GK 129.1; GC.129.1}

Als Tetzel seinen Handel und seine gottlosen Behauptungen fortsetzte, entschloß sich Luther zu einem wirksameren Widerstand gegen die schreienden Mißbräuche. Bald bot sich hierzu Gelegenheit. Die Schloßkirche zu Wittenberg war im Besitz vieler Reliquien, die an gewissen Festtagen für das Volk ausgestellt wurden. Vergebung der Sünden gewährte man allen, die dann die Kirche besuchten und beichteten. Demzufolge war das Volk an diesen Tagen in großer Zahl dort zu finden. {GK 129.2; GC.129.2}

Tor der Schloßkirche zu Wittenberg, an die die 95 Thesen geschlagen wurden. © 2016 Tina Eißner

Eine der wichtigsten Gelegenheiten, das Fest „Allerheiligen“, stand vor der Tür. Am Tage zuvor schloß Luther sich der Menge an, die bereits auf dem Wege nach der Kirche war und heftete einen Bogen mit 95 Thesen gegen die Ablaßlehre an die Kirchentür. Er erklärte sich bereit, am folgenden Tag in der Universität diese Sätze gegen alle, die sie angreifen würden, zu verteidigen. {GK 129.3; GC.129.2}

Seine Thesen zogen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Sie wurden wieder und wieder gelesen und nach allen Richtungen hin wiederholt. Große Aufregung entstand in der Universität und in der ganzen Stadt. Durch diese Thesen wurde gezeigt, daß die Macht, Vergebung der Sünden zu gewähren und ihre Strafe zu erlassen, nie dem Papst oder irgendeinem andern Menschen übergeben worden war. Der ganze Plan sei ein Betrug, ein Kunstgriff, um Geld zu erpressen, indem man den Aberglauben des Volkes ausbeute — eine List Satans, um die Seelen aller zu verderben, die sich auf seine lügenhaften Vorspiegelungen verließen. Ferner wurde klar dargelegt, daß das Evangelium Christi der kostbarste Schatz der Kirche ist und daß die darin offenbarte Gnade Gottes allen frei gewährt wird, die sie in Reue und Glauben suchen. {GK 129.4; GC.130.1}

Luthers Thesen forderten zur Diskussion heraus; aber niemand wagte es, die Herausforderung anzunehmen. Die von ihm gestellten Fragen waren in wenigen Tagen in ganz Deutschland bekannt und erschollen in wenigen Wochen durch die ganze Christenheit. Viele ergebene Römlinge, welche die in der Kirche herrschende schreckliche Ungerechtigkeit gesehen und beklagt, aber nicht gewußt hatten, wie sie deren Fortgang aufhalten sollten, lasen die Sätze mit großer Freude und erkannten in ihnen die Stimme Gottes. Sie fühlten, daß der Herr gnädig seine Hand ausgestreckt hatte, um die rasch anschwellende Flut der Verderbnis aufzuhalten, die vom römischen Stuhl ausging. Fürsten und Beamte freuten sich im geheimen, daß der anmaßenden Gewalt, die behauptete, gegen ihre Beschlüsse dürfe kein Einwand erhoben werden, Zügel angelegt werden sollten. {GK 130.1; GC.130.2}

Aber die sündenliebende und abergläubische Menge entsetzte sich, als die Spitzfindigkeiten, die ihre Furcht beseitigt hatten, hinweggefegt wurden. Verschlagene Geistliche, die in ihrem Treiben, das Verbrechen zu billigen, gestört wurden und ihren Gewinn gefährdet sahen, gerieten in Wut und vereinigten sich in dem Bemühen, ihre Behauptungen aufrechtzuerhalten. Der Reformator stieß auf erbitterte Ankläger. Einige beschuldigten ihn, übereilt und impulsiv gehandelt zu haben. Andere nannten ihn vermessen und erklärten, daß er nicht von Gott geleitet werde, sondern aus Stolz und Voreiligkeit handle. „Wer kann eine neue Idee vorbringen“, antwortet er, „ohne einen Anschein von Hochmut, ohne Beschuldigung der Streitlust? Weshalb sind Christus und alle Märtyrer getötet worden? Weil sie stolze Verächter der Wahrheit ihrer Zeit schienen und neue Ansichten aussprachen, ohne die Organe der alten Meinung demütiglich um Rat zu fragen. Ich will nicht, daß nach Menschen Rat, sondern nach Gottes Rat geschehe, was ich tue; ist das Werk von Gott, wer möcht’s hindern, ist’s nicht aus Gott, wer möcht’s fördern? Es geschehe nicht mein, noch ihr, noch euer, sondern Dein Wille, heiliger Vater im Himmel!“1 {GK 130.2; GC.130.3}

Obwohl Luther vom Geist Gottes getrieben worden war, sein Werk zu beginnen, sollte er es doch nicht ohne schwere Kämpfe fortführen. Die Vorwürfe seiner Feinde, ihre Mißdeutung seiner Absichten und ihre ungerechten und boshaften Bemerkungen über seinen Charakter und seine Beweggründe ergossen sich gleich einer überstürzenden Flut über ihn und blieben nicht ohne Wirkung. Er hatte zuversichtlich damit gerechnet, daß die Führer des Volkes sowohl in der Kirche als auch in der Universität sich ihm bereitwillig in seinen Bemühungen zugunsten der Reformation anschließen würden. Ermutigende Worte von hochgestellten Persönlichkeiten hatten ihm Freude und Hoffnung eingeflößt. In der Vorahnung hatte er bereits einen helleren Tag für die Gemeinde anbrechen sehen. Doch die Ermutigung verwandelte sich in Vorwurf und Verurteilung. Viele staatliche und kirchliche Würdenträger waren von der Wahrheit seiner Thesen überzeugt; aber sie sahen bald, daß die Annahme dieser Wahrheiten große Umwälzungen mit sich bringen würden. Das Volk zu erleuchten und umzugestalten hieße in Wirklichkeit die Autorität Roms zu untergraben, Tausende von Strömen, die nun in seine Schatzkammer flossen, aufzuhalten und auf diese Weise die Verschwendung und den Aufwand der Herren Roms in hohem Grade zu beschränken. Noch mehr: Das Volk zu lehren, als verantwortliche Geschöpfe zu denken und zu handeln und allein auf Christus zu blicken, um selig zu werden, würde den Thron des Papstes stürzen und am Ende auch die Autorität seiner Würdenträger zugrunde richten. Aus dieser Ursache heraus wiesen sie die von Gott dargebotene Erkenntnis zurück und erhoben sich durch ihren Widerstand gegen den Mann, den Gott zu ihrer Erleuchtung gesandt hatte, wider Christus und die Wahrheit. {GK 131.1; GC.131.2}

Schlosskirche zu Wittenberg © 2016 Tina Eißner

Luther zitterte, als er auf sich sah, „mehr eine Leiche, denn einem Menschen gleich“, den gewaltigsten Mächten der Erde gegenübergestellt. Zuweilen zweifelte er, ob ihn der Herr in seinem Widerstand wider die Autorität der Kirche wirklich leitete. Er schrieb: „Wer war ich elender, verachteter Bruder dazumal, der sich sollte wider des Papstes Majestät setzen, vor welcher die Könige auf Erden und der ganze Erdboden sich entsetzten und allein nach seinen Winken sich mußten richten? Was mein Herz in jenen zwei Jahren ausgestanden und erlitten habe und in welcherlei Demut, ja Verzweiflung ich da schwebte, ach! da wissen die sichern Geister wenig von, die hernach des Papstes Majestät mit großem Stolz und Vermessenheit angriffen.“ (Seckendorff, „Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo seu de reformatione“, Bd. I 119f.) Doch er wurde nicht gänzlich entmutigt. Fehlten menschliche Stützen, so schaute er auf Gott allein und lernte, daß er sich in vollkommener Sicherheit auf dessen allmächtigen Arm verlassen konnte. {GK 131.2; GC.132.1}

Einem Freund der Reformation schrieb Luther: „Es ist vor allem gewiß, daß man die Heilige Schrift weder durch Studium noch mit dem Verstand erfassen kann. Deshalb ist es zuerst Pflicht, daß du mit dem Gebet beginnst und den Herrn bittest, er möge dir zu seiner Ehre, nicht zu deiner, in seiner großen Barmherzigkeit das wahre Verständnis seiner Worte schenken. Das Wort Gottes wird uns von seinem Urheber ausgelegt, wie er sagt, daß sie alle von Gott gelehrt sind. Hoffe deshalb nichts von deinem Studium und Verstand; vertraue allein auf den Einfluß des Geistes. Glaube meiner Erfahrung.“ (Enders, Bd.I 142, 18.Januar 1518) Hier wird eine außerordentlich wichtige Erfahrung mitgeteilt für alle, die sich von Gott berufen fühlen, andern die ernsten Wahrheiten für die gegenwärtige Zeit zu verkündigen. Diese Wahrheiten erregen die Feindschaft Satans und der Menschen, welche die Fabeln lieben, die er erdichtet hat. Zum Kampf mit den bösen Mächten ist mehr vonnöten als Verstandeskraft und menschliche Weisheit. {GK 132.1; GC.132.2}

Beriefen sich die Gegner auf Gebräuche und Überlieferungen oder auf die Behauptungen und die Autorität des Papstes, so trat Luther ihnen mit der Bibel, nur mit der Bibel entgegen. Darin standen Beweisführungen, die sie nicht widerlegen konnten; deshalb schrien die Sklaven des Formenwesens und des Aberglaubens nach seinem Blut, wie die Juden nach dem Blut Christi geschrien hatten. „Er ist ein Ketzer!“ riefen die römischen Eiferer. „Es ist Hochverrat gegen die Kirche, wenn ein so schändlicher Ketzer noch eine Stunde länger lebt. Auf den Scheiterhaufen mit ihm!“ (Seckendorff, ebd. S.104) Aber Luther fiel ihrer Wut nicht zum Opfer. Gott hatte eine Aufgabe für ihn bereit, und himmlische Engel wurden ausgesandt, ihn zu beschützen. Viele jedoch, die von Luther das köstliche Licht empfangen hatten, wurden die Zielscheibe der Wut Satans und erlitten um der Wahrheit willen furchtlos Marter und Tod. {GK 132.2; GC.132.3}

Luthers Lehren zogen die Aufmerksamkeit denkender Geister in ganz Deutschland auf sich. Seine Predigten und Schriften verbreiteten Lichtstrahlen, die Tausende erschreckten und erleuchteten. Ein lebendiger Glaube trat an die Stelle toten Formenwesens, in welchem die Kirche so lange gehalten worden war. Das Volk verlor täglich mehr das Zutrauen zu den abergläubischen Lehren der römischen Religion. Die Schranken des Vorurteils gaben nach. Das Wort Gottes, nach dem Luther jede Lehre und jede Behauptung prüfte, war gleich einem zweischneidigen Schwert, das sich seinen Weg in die Herzen des Volkes bahnte. Überall erwachte das Verlangen nach geistlichem Wachstum; überall entstand ein so großer Hunger und Durst nach Gerechtigkeit, wie man ihn seit Jahrhunderten nicht gekannt hatte. Die bis dahin auf menschliche Gebräuche und irdische Vermittler gerichteten Blicke des Volkes wandten sich nun reuevoll und gläubig auf Christus, den Gekreuzigten. {GK 133.1; GC.133.1}

Dieses weitverbreitete Heilsverlangen erweckte noch mehr die Furcht der päpstlichen Autoritäten. Luther erhielt eine Vorladung, in Rom zu erscheinen, um sich gegen die Beschuldigung, Ketzerei getrieben zu haben, zu verantworten. Diese Aufforderung erfüllte seine Freunde mit Schrecken. Sie kannten nur zu gut die Gefahr, die ihm in jener verderbten, vom Blut der Zeugen Jesu trunkenen Stadt drohte. Sie erhoben Einspruch gegen seine Reise nach Rom und befürworteten ein Gesuch, ihn in Deutschland verhören zu lassen. {GK 133.2; GC.133.2}

Ausschnitt aus dem Gemälde von Ferdinand Pauwels „Luther vor Cajetan“, 1872

Dies wurde schließlich genehmigt und der päpstliche Gesandte Cajetan dazu bestimmt, den Fall anzuhören. In den ihm mitgegebenen Anweisungen hieß es, daß Luther bereits als Ketzer erklärt worden sei. Der päpstliche Gesandte wurde deshalb beauftragt, „ihn zu verfolgen und unverzüglich in Haft zu nehmen“. Falls Luther standhaft bliebe oder der Legat seiner nicht habhaft würde, war der Vertreter Roms bevollmächtigt, ihn an allen Orten Deutschlands zu ächten, zu verbannen, zu verfluchen und alle seine Anhänger in den Bann zu tun. (Luther, EA, op. lat. XXXIII 354f.) Um die pestartige Ketzerei auszurotten, befahl der Papst seinem Gesandten, außer dem Kaiser alle ohne Rücksicht auf ihr Amt in Kirche und Staat in die Acht zu erklären, falls sie es unterließen, Luther und seine Anhänger zu ergreifen und der Rache Roms auszuliefern. {GK 133.3; GC.133.3}

Hier zeigte sich der wahre Geist des Papsttums. Nicht ein Anzeichen christlicher Grundsätze oder auch nur gewöhnlicher Gerechtigkeit war aus dem ganzen Schriftstück ersichtlich. Luther war weit von Rom entfernt; ihm war keine Gelegenheit gegeben gewesen, seinen Standpunkt zu erklären oder zu verteidigen, sondern er war, bevor man seinen Fall untersucht hatte, ohne weiteres als Ketzer erklärt und am selben Tag ermahnt, angeschuldigt, gerichtet und verurteilt worden, und zwar von dem, der sich selbst „Heiliger Vater“ nannte, der alleinigen höchsten, unfehlbaren Autorität in Kirche und Staat! {GK 134.1; GC.134.1}

Phillip Melanchthon, Lukas Cranach d.Ä., 1537

Um diese Zeit, da Luther der Liebe und des Rates eines treuen Freundes so sehr bedurfte, sandte Gottes Vorsehung Melanchthon nach Wittenberg. Jung an Jahren, bescheiden und zurückhaltend in seinem Benehmen, gewannen Melanchthons gesundes Urteil, umfassendes Wissen und gewinnende Beredsamkeit im Verein mit der Reinheit und Redlichkeit seines Charakters ihm allgemeine Achtung und Bewunderung. Seine glänzenden Talente waren nicht bemerkenswerter als die Sanftmut seines Gemüts. Er wurde bald ein eifriger Jünger des Evangeliums und Luthers vertrautester Freund und wertvollster Helfer; seine Sanftmut, Vorsicht und Genauigkeit ergänzten Luthers Mut und Tatkraft. Ihr vereintes Wirken gab der Reformation die erforderliche Kraft und war für Luther eine Quelle großer Ermutigung. {GK 134.2; GC.134.2}


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Aus „Der Große Kampf“, von Ellen G. White, S.124-133, Saatkornverlag Hamburg, 1973; Herausgeber der hier verwendeten digitalen Ausführung: Ellen G. White Estate, Inc.; weiterlesen bei www.egwwritings.org
Bild oben (Headerbild): Schloßkirche zu Wittenberg, Copyright © 2016 Tina Eißner