Luthers Vater war ein Mann von tatkräftigem, emsigem Geist und großer Charakterstärke, ehrlich, entschlossen und aufrichtig. Er stand zu dem, was er als seine Pflicht erkannt hatte, ganz gleich, welche Folgen dies haben mochte. Sein echter, gesunder Menschenverstand ließ ihn das Mönchswesen mit Mißtrauen betrachten. Er war höchst unzufrieden, als Luther ohne seine Einwilligung in ein Kloster eintrat. Es dauerte zwei Jahre, ehe sich der Vater mit seinem Sohn ausgesöhnt hatte, und selbst dann blieben seine Ansichten dieselben. {GK 120.3}
Luthers Eltern verwandten große Sorgfalt auf die Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder. Sie bemühten sich, sie in der Gotteserkenntnis und in der Ausübung christlicher Tugenden zu unterweisen. Oft hörte der Sohn das Gebet des Vaters zum Himmel emporsteigen, daß das Kind des Namens des Herrn gedenken und einmal die Wahrheit mit fördern helfen möge. Soweit es ihr arbeitsreiches Leben zuließ, nutzten die Eltern eifrig jede Möglichkeit, sittlich und geistig weiterzukommen. Ihre Bemühungen, ihre Kinder für ein Leben der Frömmigkeit und Nützlichkeit zu erziehen, waren ernsthaft und ausdauernd. In ihrer Entschiedenheit und Charakterfestigkeit verlangten sie von ihren Kindern zuweilen etwas zu viel; aber der Reformator selbst fand an ihrer Erziehungsweise mehr zu billigen als zu tadeln, obwohl er sich in mancher Beziehung bewußt war, daß sie geirrt hatten. {GK 120.4}
In der Schule, die er schon in jungen Jahren besuchte, wurde Luther streng, ja geradezu hart behandelt. Die Armut seiner Eltern war so groß, daß er, als er das Vaterhaus verließ, um die Schule eines andern Ortes zu besuchen, eine Zeitlang genötigt war, sich seinen Unterhalt als Kurrende-Sänger zu erwerben, wobei er oft Hunger litt. Die damals herrschenden finsteren, abergläubischen Vorstellungen von der Religion erfüllten ihn mit Furcht. Er legte sich abends mit sorgenschwerem Herzen nieder, sah mit Zittern in die dunkle Zukunft und schwebte in ständiger Furcht, wenn er an Gott dachte, in dem er mehr einen harten, unerbittlichen Richter und grausamen Tyrannen als einen liebevollen himmlischen Vater sah. {GK 121.1}
Dennoch strebte Luther unter sehr vielen und großen Entmutigungen entschlossen vorwärts, dem hohen Ziel sittlicher und geistiger Vortrefflichkeit zu, das seine Seele anzog. Ihn dürstete nach Erkenntnis, und sein ernster und praktisch veranlagter Charakter verlangte eher nach dem Dauerhaften und Nützlichen als nach Schein und Oberflächlichkeiten. {GK 121.2}
Als er mit achtzehn Jahren die Universität in Erfurt bezog, war seine Lage günstiger und seine Aussichten waren erfreulicher als in seinen jüngeren Jahren. Da es seine Eltern durch Fleiß und Sparsamkeit zu einigem Wohlstand gebracht hatten, waren sie imstande, ihm alle nötige Hilfe zu gewähren; auch hatte der Einfluß verständiger Freunde die düsteren Wirkungen seiner früheren Erziehung etwas gemildert. Er studierte nun eifrig die besten Schriftsteller, bereicherte sein Verständnis mit ihren wichtigsten Gedanken und eignete sich die Weisheit der Weisen an. Sogar unter der rauhen Zucht seiner ehemaligen Lehrmeister hatte er schon früh zu Hoffnungen berechtigt, daß er sich einmal auszeichnen könnte, und unter günstigen Einflüssen entwickelte sich sein Geist jetzt schnell. Ein gutes Gedächtnis, ein lebhaftes Vorstellungsvermögen, eine überzeugende Urteilskraft und unermüdlicher Fleiß ließen ihn bald einen Platz in den vordersten Reihen seiner Gefährten gewinnen. Die geistige Erziehung reifte seinen Verstand und erweckte eine Geistestätigkeit und einen Scharfblick, die ihn für die Kämpfe seines Lebens vorbereiteten. {GK 121.3}
Die Furcht des Herrn wohnte in Luthers Herzen; sie befähigte ihn, an seinen Vorsätzen festzuhalten und führte ihn zu tiefer Demut vor Gott. Er war sich ständig seiner Abhängigkeit von der göttlichen Hilfe bewußt und versäumte nicht, jeden Tag mit Gebet zu beginnen, während sein Herz ständig um Führung und Beistand flehte. Oft sagte er: „Fleißig gebetet ist über die Hälfte studiert.“ (Mathesius, „Luther-Historien“, 3.)
Als Luther eines Tages in der Universitätsbibliothek die Bücher durchschaute, entdeckte er eine lateinische Bibel. Solch ein Buch hatte er nie zuvor gesehen, wie er selbst bezeugte: „Da ich zwanzig Jahr alt war, hatte ich noch keine gesehen. Ich meinte, es wären keine Evangelien noch Episteln mehr, denn die in den Postillen sind.“ („D. Martin Luthers sämtliche Werke“, Erlanger Ausgabe, LX, 255) Nun blickte er zum erstenmal auf das ganze Wort Gottes. Mit ehrfürchtigem Staunen wendete er die heiligen Blätter um; mit beschleunigtem Puls und klopfendem Herzen las er selbst die Worte des Lebens, hin und wieder anhaltend, um auszurufen: „Oh, daß Gott mir solch ein Buch als mein Eigentum geben wollte!“ Engel Gottes standen ihm zur Seite, und Strahlen des Lichtes vom Thron des Höchsten enthüllten seinem Verständnis die Schätze der Wahrheit. Er hatte sich stets gefürchtet, Gott zu beleidigen; jetzt aber ergriff ihn wie nie zuvor eine tiefe Überzeugung seines sündhaften Zustandes. {GK 122.2}
Das aufrichtige Verlangen, von Sünden frei zu sein und Frieden mit Gott zu haben, veranlaßte ihn schließlich, in ein Kloster einzutreten und ein Mönchsleben zu führen. Hier mußte er sich den niedrigsten Arbeiten unterziehen und von Haus zu Haus betteln. Er stand in dem Alter, in dem man sich am meisten nach Achtung und Anerkennung sehnt, und fühlte sich in seinen natürlichen Gefühlen durch diese niedrige Beschäftigung tief gekränkt; aber geduldig ertrug er die Demütigung, weil er glaubte, daß es um seiner Sünden willen notwendig sei. {GK 122.3}
Jeden Augenblick, den er von seinen täglichen Pflichten erübrigen konnte, verwandte er aufs Studium; er gönnte sich wenig Schlaf und nahm sich kaum die Zeit für seine bescheidenen Mahlzeiten. Vor allem andern erfreute ihn das Studium des Wortes Gottes. Er hatte an der Klostermauer angekettet eine Bibel gefunden und zog sich oft zu ihr zurück. Je mehr er von seinen Sünden überzeugt wurde, desto stärker suchte er durch eigene Werke Vergebung und Frieden zu erlangen. Er führte ein außerordentlich strenges Leben und bemühte sich, das Böse seines Wesens, von dem sein Mönchstum ihn nicht zu befreien vermocht hatte, durch Fasten, Wachen und Kasteien zu besiegen. Er schreckte vor keinem Opfer zurück, das ihm möglicherweise zur Reinheit des Herzens verhelfen könnte, die ihm vor Gott Anerkennung brächte. „Wahr ist‘s, ein frommer Mönch bin ich gewesen, und habe so gestrenge meinen Orden gehalten, daß ich‘s sagen darf: ist je ein Mönch gen Himmel gekommen durch Möncherei, so wollte ich auch hineingekommen sein; denn ich hätte mich (wo es länger gewährt hätte) zu Tode gemartert mit Wachen, Beten, Lesen und anderer Arbeit.“ (Luther, EA, XXXI, 273) Infolge dieser schmerzhaften Zucht wurde er immer schwächer und litt an Ohnmachtsanfällen, von deren Auswirkungen er sich nie ganz erholte. Aber trotz aller Anstrengungen fand seine angsterfüllte Seele keine Erleichterung, sondern wurde immer verzweifelter. {GK 123.1}
Als es Luther schien, daß alles verloren sei, erweckte Gott ihm einen Helfer und Freund. Der fromme Staupitz öffnete seinem Verständnis das Wort Gottes und riet ihm, seine Aufmerksamkeit von sich selbst abzulenken und mit den Betrachtungen über eine ewige Strafe für die Übertretung des Gesetzes Gottes aufzuhören und auf Jesus, seinen sündenvergebenden Heiland, zu schauen. „Statt dich wegen deiner Sünden zu kasteien, wirf dich in die Arme des Erlösers. Vertraue auf ihn — auf die Gerechtigkeit seines Lebens — auf die Versöhnung in seinem Tode. Horch auf den Sohn Gottes. Er ist Mensch geworden, dir die Gewißheit seiner göttlichen Gunst zu geben.“ — „Liebe ihn, der dich zuerst geliebt hat.“ (Walch, „D. Martin Luthers sämtliche Schriften“, II 264) So sprach dieser Bote der Gnade. Seine Worte machten tiefen Eindruck auf Luthers Gemüt. Nach manchem Kampf mit langgehegten Irrtümern erfaßte er die Wahrheit, und Friede zog in seine gequälte Seele ein. {GK 123.2}
Luther wurde zum Priester geweiht und aus dem Kloster als Professor an die Universität Wittenberg berufen. Hier widmete er sich dem Studium der Heiligen Schrift in den Grundtexten, begann darüber Vorlesungen zu halten und erschloß das Buch der Psalmen, die Evangelien und Briefe dem Verständnis von Scharen begeisterter Zuhörer. Staupitz nötigte ihn, die Kanzel zu besteigen und das Wort Gottes zu predigen. Luther zögerte, da er sich unwürdig fühlte, als Bote Christi zum Volk zu reden. Nur nach langem Widerstreben gab er den Bitten seiner Freunde nach. Die Wahrheiten der Heiligen Schrift erfüllten ihn schon stark, und Gottes Gnade ruhte auf ihm. Seine Beredsamkeit fesselte die Zuhörer, die Klarheit und Macht in der Darstellung der Wahrheit überzeugte ihren Verstand, und seine Inbrunst bewegte die Herzen. {GK 124.1}
Luther war noch immer ein treuer Sohn der päpstlichen Kirche und dachte nicht daran, je etwas anderes zu sein. Nach der Vorsehung Gottes bot sich ihm Gelegenheit, Rom zu besuchen. Er machte die Reise zu Fuß, wobei er in den am Wege liegenden Klöstern Herberge fand. Verwunderung erfüllte ihn, als er in einem Kloster in Italien den Reichtum, die Pracht und den Aufwand dieser Stätten sah. Mit einem fürstlichen Einkommen beschenkt, wohnten die Mönche in glänzenden Gemächern, kleideten sich in die reichsten und köstlichsten Gewänder und führten eine üppige Tafel. Schmerzlich besorgt, verglich Luther dieses Schauspiel mit der Selbstverleugnung und der Mühsal seines eigenen Lebens. Seine Gedanken wurden verwirrt. {GK 124.2}
Endlich erblickte er aus der Ferne die Stadt der sieben Hügel. Tief bewegt warf er sich auf die Erde nieder und rief: „Sei mir gegrüßt, du heiliges Rom!“ Er betrat die Stadt, besuchte die Kirchen, lauschte den von den Priestern und Mönchen vorgetragenen Wundererzählungen und erfüllte alle vorgeschriebenen Zeremonien. Überall boten sich ihm Szenen, die ihn in Erstaunen und Schrecken versetzten. Er sah, daß unter allen Klassen der Geistlichkeit das Laster herrschte. Von den Lippen der Geistlichen mußte er unanständige Redensarten hören. Ihr gottloses Wesen, selbst während der Messe, entsetzte ihn. Als er sich unter die Mönche und Bürger mischte, fand er Verschwendung und Ausschweifung. Wohin er sich auch wandte, er traf statt Heiligkeit Entweihung. „Niemand glaube, was zu Rom für Büberei und greulich Sünde und Schande gehen … er sehe, höre und erfahre es denn. Daher sagt man: ‚Ist irgendeine Hölle, so muß Rom drauf gebaut sein; denn da gehen alle Sünden im Schwang.‘“ (Luther, EA, LXII 441) {GK 124.3}
Durch einen kurz vorher veröffentlichten Erlaß war vom Papst allen denen Ablaß verheißen worden, die auf den Knien die „Pilatusstiege“ hinaufrutschen würden, von der gesagt wird, unser Heiland sei darauf herabgestiegen, als er das römische Gerichtshaus verließ, und sie sei durch ein Wunder von Jerusalem nach Rom gebracht worden.(Ranke, „Geschichte im Zeitalter der Reformation“, 8.Auflage, I 200) Luther erklomm eines Tages andächtig diese Treppe, als plötzlich eine donnerähnliche Stimme zu ihm zu sagen schien: „Der Gerechte wird seines Glaubens leben!“ (Römer 1,17). In Scham und Schrecken sprang er auf und floh von dieser Stätte. Jene Bibelstelle verlor nie ihre Wirkung auf seine Seele. Von jener Zeit an sah er deutlicher als je zuvor die Täuschung, auf Menschenwerke zu vertrauen, um Erlösung zu erlangen, und ebenso deutlich sah er die Notwendigkeit eines unerschütterlichen Glaubens an die Verdienste Christi. Seine Augen waren geöffnet worden, um nie wieder verschlossen zu werden. Als er Rom den Rücken kehrte, hatte er sich auch in seinem Herzen von Rom abgewandt, und von jener Zeit an wurde die Kluft immer tiefer, bis er schließlich alle Verbindung mit der päpstlichen Kirche abschnitt. {GK 125.1}
Einige Zeit nach seiner Rückkehr aus Rom wurde Luther von der Universität zu Wittenberg der Titel eines Doktors der Theologie verliehen. Nun stand es ihm frei, sich wie nie zuvor der Heiligen Schrift zu widmen, die er liebte. Er hatte das feierliche Gelöbnis abgelegt, alle Tage seines Lebens Gottes Wort, und nicht die Aussprüche und Lehren der Päpste, zu studieren und gewissenhaft zu predigen. Er war nicht länger der einfache Mönch oder Professor, sondern der bevollmächtigte Verkünder der Heiligen Schrift; er war zu einem Hirten berufen, die Herde zu weiden, die nach der Wahrheit hungerte und dürstete. Mit Bestimmtheit erklärte er, die Christen sollten keine anderen Lehren annehmen, als die, welche auf der Autorität der Heiligen Schrift beruhten. Diese Worte trafen ganz und gar die Grundlage der päpstlichen Oberherrschaft; sie enthielten den wesentlichen Grundsatz der Reformation. {GK 125.2}
Luther erkannte die Gefahr, menschliche Lehrsätze über das Wort Gottes zu erheben. Furchtlos griff er den spitzfindigen Unglauben der Schulgelehrten an und trat der Philosophie und Theologie, die so lange einen herrschenden Einfluß auf das Volk ausgeübt hatten, entgegen. Er verwarf deren Bemühen nicht nur als wertlos, sondern auch als verderblich und suchte die Gemüter seiner Zuhörer von den Trugschlüssen der Philosophen und Theologen abzuwenden und auf die ewigen Wahrheiten hinzulenken, die die Propheten und Apostel verkündigten. {GK 126.1}
Köstlich war die Botschaft, die er der lebhaft anteilnehmenden Menge, die an seinen Lippen hing, bringen durfte. Nie zuvor waren solche Lehren an ihre Ohren gedrungen. Die frohe Kunde von der Liebe des Heilandes, die Gewißheit der Vergebung und des Friedens durch das versöhnende Blut Christi erfreute ihre Herzen und füllte sie mit einer unvergänglichen Hoffnung. In Wittenberg war ein Licht angezündet worden, dessen Strahlen die fernsten Teile der Erde erreichen und bis zum Ende der Zeit an Glanz und Klarheit mehr und mehr zunehmen sollten.{GK 126.2}
Aber Licht und Finsternis können sich nicht vertragen, und zwischen Wahrheit und Irrtum besteht ein unvermeidbarer Kampf. Das eine aufrechterhalten und verteidigen heißt das andere angreifen und umstürzen. Unser Heiland selbst erklärte: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert“ (Matthäus 10,34), und Luther schrieb einige Jahre nach Beginn der Reformation: „Gott reißt, treibt und führt mich; ich bin meiner nicht mächtig; ich will stille sein und werde mitten in den Tumult hineingerissen.“(Enders, „D. Martin Luthers Briefwechsel“, Bd. I 430, 20. Februar 1519) — Er sollte nun in den Kampf gedrängt werden. {GK 126.3}
aus „Der Große Kampf“, von Ellen G. White, S.120-126, Saatkornverlag Hamburg, 1973; Herausgeber der hier verwendeten digitalen Ausführung: Ellen G. White Estate, Inc., dort lesen unter: . www.egwwritings.org; weiterlesen bei www.egwwritings.org