Augsburg war als Ort des Verhörs bestimmt worden. Der Reformator trat die Reise zu Fuß an. Man hegte seinetwegen ernste Befürchtungen. Es war ihm öffentlich gedroht worden, daß er auf dem Wege ergriffen und ermordet würde, und seine Freunde baten ihn, sich dem nicht auszusetzen. Sie drangen sogar in ihn, Wittenberg eine Zeitlang zu verlassen und sich dem Schutz derer anzuvertrauen, die ihn bereitwillig beschirmen würden. Er aber wollte den Platz nicht verlassen, auf den Gott ihn gestellt hatte. Ungeachtet der über ihn hereinbrechenden Stürme mußte er getreulich die Wahrheit weiterführen. Er sagte sich: „Ich bin mit Jeremia gänzlich der Mann des Haders und der Zwietracht … je mehr sie drohen, desto freudiger bin ich … mein Name und Ehre muß auch jetzt gut herhalten; also ist mein schwacher und elender Körper noch übrig, wollen sie den hinnehmen, so werden sie mich etwa um ein paar Stunden Leben ärmer machen, aber die Seele werden sie mir doch nicht nehmen … wer Christi Wort in die Welt tragen will, muß mit den Aposteln stündlich gewärtig sein, mit Verlassung und Verleugnung aller Dinge den Tod zu leiden.“ (Enders, Bd.I. S.211f., 10.7.1518) {GK 134.3}
Die Nachricht von Luthers Ankunft in Augsburg erfüllte den päpstlichen Gesandten mit großer Genugtuung. Der unruhestiftende Ketzer, der die Aufmerksamkeit der ganzen Welt erregte, schien nun in der Gewalt Roms zu sein, und der Legat war entschlossen, ihn nicht entrinnen zu lassen. Der Reformator hatte versäumt, sich mit einem Sicherheitsgeleit zu versehen. Seine Freunde überredeten ihn, nicht ohne Geleit vor dem Gesandten zu erscheinen, und versuchten, ihm eins vom Kaiser zu verschaffen. Der Vertreter Roms hatte die Absicht, Luther — wenn möglich — zum Widerruf zu zwingen oder, falls ihm dies nicht gelänge, ihn nach Rom bringen zu lassen, damit er dort das Schicksal eines Hus und Hieronymus teile. Deshalb versuchte er durch seine Beauftragten Luther zu bewegen, ohne Sicherheitsgeleit zu erscheinen und sich seiner Gnade anzuvertrauen. Der Reformator lehnte dies jedoch ab und erschien nicht eher vor dem päpstlichen Gesandten, bis er den Brief, der den Schutz des Kaisers verbürgte, erhalten hatte. {GK 135.1}
Klüglich hatten sich die Römlinge entschlossen, Luther durch scheinbares Wohlwollen zu gewinnen. Der Legat zeigte sich in seinen Unterredungen mit ihm sehr freundlich, verlangte aber, daß Luther sich der Autorität der Kirche bedingungslos unterwerfen und in jedem Punkt ohne Beweis oder Frage nachgeben solle. Er hatte den Charakter des Mannes, mit dem er verhandelte, nicht richtig eingeschätzt. Luther drückte in Erwiderung seine Achtung vor der Kirche aus, sein Verlangen nach der Wahrheit, seine Bereitwilligkeit, alle Einwände gegen das, was er gelehrt hatte, zu beantworten und seine Lehren dem Entscheid gewisser führender Universitäten zu unterbreiten. Gleichzeitig aber protestierte er gegen die Verfahrensweise des Kardinals, von ihm einen Widerruf zu verlangen, ohne ihm den Irrtum bewiesen zu haben. {GK 135.2}
Die einzige Antwort war: „Widerrufe! Widerrufe!“ Der Reformator berief sich auf die Heilige Schrift und erklärte entschlossen, daß er die Wahrheit nicht aufgeben könne. Der Legat, den Beweisführungen Luthers nicht gewachsen, überhäufte ihn so mit Vorwürfen, Spott und Schmeicheleien, vermengt mit Zitaten der Kirchenväter und aus der Überlieferung, daß der Reformator nicht recht zu Worte kam. Luther, der die Nutzlosigkeit einer derartigen Unterredung einsah, erhielt schließlich die mit Widerstreben erteilte Erlaubnis, seine Verteidigung schriftlich einzureichen. {GK 135.3}
Dadurch erzielte Luther trotz seiner Bedrückung einen doppelten Gewinn. Er konnte seine Verteidigung der ganzen Welt zur Beurteilung unterbreiten und auch besser durch eine gutausgearbeitete Schrift auf das Gewissen und die Furcht eines anmaßenden und geschwätzigen Tyrannen einwirken, der ihn immer wieder überschrie. (Luther, EA, XVII 209; L III 3f.) {GK 136.1}
Bei der nächsten Zusammenkunft gab Luther eine klare, gedrängte und eindrucksvolle Erklärung ab, die er durch viele Schriftstellen begründete, und überreichte sie dann dem Kardinal. Dieser warf sie jedoch verächtlich beiseite mit der Bemerkung, sie enthalte nur eine Menge unnütze Worte und unzutreffender Schriftstellen. Luther, dem jetzt die Augen aufgegangen waren, begegnete dem überheblichen Prälaten auf dessen ureigenstem Gebiet, den Überlieferungen und Lehren der Kirche, und widerlegte dessen Darlegungen gründlich und völlig. {GK 136.2}
Als der Prälat sah, daß Luthers Gründe unwiderlegbar waren, verlor er seine Selbstbeherrschung und rief zornig aus: „Widerrufe!“ Wenn er dies nicht sofort täte oder in Rom sich seinen Richtern stellte, so würde er über ihn und alle, die ihm gewogen seien, den Bannfluch, und über alle, zu denen er sich hinwendete, das kirchliche Interdikt verhängen. Zuletzt erhob sich der Kardinal mit den Worten: „Geh! widerrufe oder komm mir nicht wieder vor die Augen.“ (Luther, EA, LXIV 361-365; LXII 71f.) {GK 136.3}
Der Reformator zog sich sofort mit seinen Freunden zurück und gab deutlich zu verstehen, daß man keinen Widerruf von ihm erwarten könne. Das entsprach keineswegs der Hoffnung des Kardinals. Er hatte sich geschmeichelt, mit Gewalt und Einschüchterung zur Unterwerfung zwingen zu können. Mit seinen Helfern jetzt allein gelassen, blickte er höchst ärgerlich über das unerwartete Mißlingen seiner Anschläge von einem zum andern. {GK 136.4}
Luthers Bemühungen bei diesem Anlaß waren nicht ohne gute Folgen. Die anwesende große Versammlung hatte Gelegenheit die beiden Männer zu vergleichen und sich selbst ein Urteil zu bilden über den Geist, der sich in ihnen offenbarte, und über die Stärke und die Wahrhaftigkeit ihrer Stellung. Welch bezeichnender Unterschied! Luther, einfach, bescheiden, entschieden, stand da in der Kraft Gottes, die Wahrheit auf seiner Seite; der Vertreter des Papstes, eingebildet, anmaßend, hochmütig und unverständig, ohne auch nur einen einzigen Beweis aus der Heiligen Schrift, laut schreiend: Widerrufe oder du wirst nach Rom geschickt werden, um dort die verdiente Strafe zu erleiden! {GK 136.5}
Das Sicherheitsgeleit Luthers nicht achten wollend, planten die Römlinge, ihn zu ergreifen und einzukerkern. Seine Freunde baten ihn dringend, da es für ihn nutzlos sei, seinen Aufenthalt zu verlängern, ohne Aufschub nach Wittenberg zurückzukehren, dabei aber äußerst vorsichtig zu Werke zu gehen, um seine Absichten zu verbergen. Demgemäß verließ er Augsburg vor Tagesanbruch zu Pferde, nur von einem Führer geleitet, der ihm vom Stadtoberhaupt zur Verfügung gestellt wurde. Unter trüben Ahnungen nahm er heimlich seinen Weg durch die dunklen, stillen Straßen der Stadt, sannen doch wachsame und grausame Feinde auf seinen Untergang! Würde er den ausgelegten Schlingen entrinnen? Dies waren Augenblicke der Besorgnis und ernsten Gebets. Er erreichte ein kleines Tor in der Stadtmauer. Man öffnete ihm, und ohne gehindert zu werden, zog er mit seinem Führer hinaus. Sich außerhalb des Stadtbezirks sicherer fühlend, beschleunigten die Flüchtlinge ihren Ritt, und ehe noch der Legat von Luthers Abreise Kenntnis erhielt, befand dieser sich außerhalb des Bereiches seiner Verfolger. Satan und seine Abgesandten waren überlistet. Der Mann, den sie in ihrer Gewalt glaubten, war entkommen wie der Vogel den Schlingen des Voglers. {GK 137.1}
Die Nachricht von Luthers Flucht überraschte und ärgerte den Legaten. Er hatte erwartet, für die Klugheit und Entschiedenheit bei seinen Verhandlungen mit diesem Unruhestifter in der Kirche große Ehren zu empfangen, fand sich jedoch in seiner Hoffnung getäuscht. Er gab seinem Zorn in einem Brief an den Kurfürsten von Sachsen, Friedrich den Weisen, Ausdruck, in dem er Luther bitter anschuldigte und verlangte, Friedrich solle den Reformator nach Rom senden oder aus Sachsen verbannen. {GK 137.2}
Zu seiner Rechtfertigung verlangte Luther, daß der Legat oder der Papst ihn seiner Irrtümer aus der Heiligen Schrift überführen solle, und verpflichtete sich feierlichst, seine Lehren zu widerrufen, falls nachgewiesen werden könne, daß sie dem Worte Gottes widersprächen. Er dankte Gott, daß er für würdig erachtet worden sei, um einer so heiligen Sache willen zu leiden. {GK 138.1}
Der Kurfürst wußte bis dahin nur wenig von den reformierten Lehren; aber die Aufrichtigkeit, die Kraft und die Klarheit der Worte Luthers machten einen tiefen Eindruck auf ihn, und er beschloß, so lange als des Reformators Beschützer aufzutreten, bis dieser des Irrtums überführt würde. Als Erwiderung auf die Forderung des päpstlichen Gesandten schrieb er: „Weil der Doktor Martinus vor euch zu Augsburg erschienen ist, so könnt ihr zufrieden sein. Wir haben nicht erwartet, daß ihr ihn, ohne ihn widerlegt zu haben, zum Widerruf zwingen wollt. Kein Gelehrter in unseren Fürstenhäusern hat behauptet, daß die Lehre Martins gottlos, unchristlich und ketzerisch sei.“ (1
Luther, EA, op. lat. XXXIII 409f.; D‘Aubigné, „Geschichte der Reformation“, 4.Buch, 10.Abschnitt) Der Fürst weigerte sich, Luther nach Rom zu schicken oder ihn aus seinem Lande zu vertreiben. {GK 138.2}
Der Kurfürst sah, daß die sittlichen Schranken der Gesellschaft allgemein zusammenbrachen. Eine große Reform war nötig geworden. Die verwickelten und kostspieligen polizeilichen und juristischen Einrichtungen wären unnötig, wenn die Menschen Gottes Gebote und die Vorschriften eines erleuchteten Gewissens anerkennten und ihnen Gehorsam leisteten. Er sah, daß Luther darauf hinarbeitete, dieses Ziel zu erreichen, und er freute sich heimlich, daß ein besserer Einfluß in der Kirche fühlbar wurde. {GK 138.3}
Er sah auch, daß Luther als Professor an der Universität ungemein erfolgreich war. Nur ein Jahr war verstrichen, seit der Reformator seine Thesen an die Schloßkirche geschlagen hatte; die Zahl der Pilger, welche die Kirche aus Anlaß des Allerheiligenfestes besuchten, war geringer geworden. Rom war seiner Anbeter und Opfergaben beraubt worden; aber ihr Platz wurde von einer andern Gruppe eingenommen, die jetzt nach Wittenberg kam — es waren nicht etwa Pilger, die hier Reliquien verehren wollten, sondern Studenten, die die Hörsäle füllten. Luthers Schriften hatten überall ein neues Verlangen nach der Heiligen Schrift wachgerufen, und nicht nur aus allen Teilen Deutschlands, sondern auch aus andern Ländern strömten der Universität Studenten zu. Jünglinge, die zum erstenmal der Stadt Wittenberg ansichtig wurden, „erhoben die Hände gen Himmel, lobten Gott, daß er wie einst in Zion das Licht der Wahrheit leuchten lasse und es in die fernsten Lande schicke.“ (D‘Aubigné, ebd.) {GK 138.4}
Luther sagte: „Ich sah damals noch sehr wenige Irrtümer des Papstes.“ (Luther, EA, LXII 73) Als er aber Gottes Wort mit den päpstlichen Erlassen verglich, schrieb er voll Erstaunen: „Ich gehe die Dekrete der Päpste für meine Disputation durch und bin — ich sage dir‘s ins Ohr — ungewiß, ob der Papst der Antichrist selbst ist oder ein Apostel des Antichrist; elendiglich wird Christus, d.h. die Wahrheit von ihm in den Dekreten gekreuzigt.“1 Aber noch immer war Luther ein Anhänger der römischen Kirche und dachte nicht daran, sich von ihr leichtfertig und unüberlegt zu trennen. {GK 139.1}
Die Schriften und Lehren des Reformators gingen zu allen Nationen der Christenheit. Das Werk dehnte sich bis in die Schweiz und nach Holland aus. Abschriften seiner Werke fanden ihren Weg nach Frankreich und Spanien. In England wurden seine Lehren als das Wort des Lebens aufgenommen. Auch nach Belgien und Italien drang die Wahrheit. Tausende erwachten aus einer todesähnlichen Erstarrung zu der Freude und Hoffnung eines Glaubenslebens. {GK 139.2}
Die Angriffe Luthers erbitterten Rom mehr und mehr, und einige seiner fanatischen Gegner, ja selbst Doktoren katholischer Universitäten erklärten, daß, wer Luther ermorde, keine Sünde begehe. Eines Tages näherte sich dem Reformator ein Fremder, der eine Pistole unter dem Mantel verborgen hatte, und fragte ihn, warum er so allein gehe. „Ich stehe in Gottes Hand“, antwortete Luther. „Er ist meine Kraft und mein Schild. Was kann mir ein Mensch tun?“ (Luther, EA, LXIV 365f.) Als der Unbekannte diese Worte hörte, erblaßte er und floh wie vor himmlischen Engeln. {GK 139.3}
Rom hatte die Vernichtung Luthers beschlossen; aber Gott war seine Wehr. Überall vernahm man seine Lehren, „in Hütten und Klöstern, in Ritterburgen, in Akademien und königlichen Palästen“; und überall erhoben sich edle, aufrichtige Männer, um seine Anstrengungen zu unterstützen. {GK 139.4}
Um diese Zeit las Luther Hus‘ Werke und als er dabei fand, daß auch der böhmische Reformator die große Wahrheit der Rechtfertigung durch den Glauben hochgehalten hatte, schrieb er: „Ich habe bisher unbewußt alle seine Lehren vorgetragen und behauptet … Wir sind Hussiten, ohne es zu wissen; schließlich sind auch Paulus und Augustin bis aufs Wort Hussiten. Ich weiß vor starrem Staunen nicht, was ich denken soll, wenn ich die schrecklichen Gerichte Gottes in der Menschheit sehe, daß die offenkundige evangelische Wahrheit schon seit über hundert Jahren öffentlich verbrannt ist und für verdammt gilt.“ (Enders, Bd. II 345, Februar 1520) {GK 140.1}
In einem Sendbrief an den Kaiser und den christlichen Adel deutscher Nation zur Besserung des christlichen Standes schrieb Luther über den Papst: „Es ist greulich und erschrecklich anzusehen, daß der Oberste in der Christenheit, der sich Christi Statthalter und Petri Nachfolger rühmt, so weltlich und prächtig fährt, daß ihn darin kein König, kein Kaiser mag erlangen und gleich werden … Gleicht sich das mit dem armen Christus und St. Peter, so ist‘s ein neues Gleichen.“ „Sie sprechen, er sei ein Herr der Welt; das ist erlogen, denn Christus, des Statthalter und Amtmann er sich rühmet, sprach vor Pilatus: ‚Mein Reich ist nicht von dieser Welt‘. Es kann doch kein Statthalter weiter regieren denn sein Herr.“ (Luther, „Ausgewählte Werke“, Bd II, München, 1948; D‘Aubigné, „Geschichte der Reformation“, 6.Buch, 3.Abschnitt, 77,81, Stuttgart, 1848) {GK 140.2}
Von den Universitäten schrieb er folgendes: „Ich habe große Sorge, die hohen Schulen seien große Pforten der Hölle, so sie nicht emsiglich die Heilige Schrift üben und treiben ins junge Volk.“ „Wo aber die Heilige Schrift nicht regiert, da rate ich fürwahr niemand, daß er sein Kind hintue. Es muß verderben alles, was nicht Gottes Wort ohne Unterlaß treibt.“ (Luther, „Ausgewählte Werke“, Bd II, München, 1948; D‘Aubigné, „Geschichte der Reformation“, 6.Buch, 3.Abschnitt, 77,81, Stuttgart, 1848) {GK 140.3}
Dieser Aufruf verbreitete sich mit Windeseile über ganz Deutschland und übte einen mächtigen Einfluß auf das Volk aus. Die ganze Nation war in Erregung und große Scharen wurden angetrieben, sich um die Fahne der Reformation zu sammeln. Luthers Gegner drangen voller Rachegelüste in den Papst, entscheidende Maßnahmen gegen ihn zu treffen. Es wurde beschlossen, Luthers Lehren sofort zu verdammen. Sechzig Tage wurden dem Reformator und seinen Anhängern gewährt, zu widerrufen; nach dieser Zeit sollten sie sonst aus der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossen werden. {GK 140.4}
Dies war die Zeit einer großen Entscheidung für die Reformation. Jahrhundertelang hatte Rom durch das Verhängen des Kirchenbannes mächtigen Monarchen Schrecken eingeflößt und gewaltige Reiche mit Elend und Verwüstung erfüllt. Alle von Roms Fluch Betroffenen wurden allgemein mit Furcht und Entsetzen angesehen; sie wurden von dem Verkehr mit ihren Glaubensbrüdern ausgeschlossen und als Geächtete behandelt, die man hetzen müsse, bis sie ausgerottet seien. Luther war nicht blind gegen den über ihn hereinbrechenden Sturm; aber er stand fest, vertrauend auf Christus, der sein Helfer und sein Schirm sei. Mit dem Glauben und dem Mut eines Märtyrers schrieb er: „Wie soll es werden? Ich bin blind für die Zukunft und nicht darum besorgt sie zu wissen … Wohin der Schlag fällt, wird mich ruhig lassen … Kein Baumblatt fällt auf die Erde ohne den Willen des Vaters, wieviel weniger wir … Es ist ein geringes, daß wir um des Wortes willen sterben oder umkommen, da er selbst im Fleisch erst für uns gestorben ist. Also werden wir mit demselben aufstehen, mit welchem wir umkommen und mit ihm durchgehen, wo er zuerst durchgegangen ist, daß wir endlich dahin kommen, wohin er auch gekommen ist und bei ihm bleiben ewiglich.“ (Enders, Bd. II 484,485, 1.10.1520; D‘Aubigné, ebd., 6.Buch, Kapitel 1. S.113) {GK 141.1}
Als die päpstliche Bulle Luther erreichte, schrieb er: „Endlich ist die römische Bulle mit Eck angekommen … Ich verlache sie nur und greife sie jetzt als gottlos und lügenhaft ganz eckianisch an. Ihr sehet, daß Christus selbst darin verdammt werde … Ich freue mich aber doch recht herzlich, daß mir um der besten Sache willen Böses widerfahre … Ich bin nun viel freier, nachdem ich gewiß weiß, daß der Papst als der Antichrist und des Satans Stuhl offenbarlich erfunden sei.“ (Enders, Bd. II 491, 12.10.1520) {GK 141.2}
Doch der Erlaß Roms blieb nicht wirkungslos. Gefängnis, Folter und Schwert erwiesen sich als mächtige Waffen, um Gehorsam zu erzwingen. Schwache und Abergläubische erzitterten vor dem Erlaß des Papstes. Während man Luther allgemein Teilnahme bekundete hielten doch viele ihr Leben für zu kostbar, um es für die Reformation zu wagen. Alles schien darauf hinzudeuten, daß sich das Werk des Reformators seinem Abschluß näherte. {GK 141.3}
Luther aber blieb noch immer furchtlos. Rom hatte seine Bannflüche gegen ihn geschleudert, und die Welt schaute zu in der sicheren Erwartung, daß er verderben oder sich unterwerfen müsse. Doch mit schrecklicher Gewalt schleuderte er das Verdammungsurteil auf seinen Urheber zurück und erklärte öffentlich seinen Entschluß, auf immer mit Rom zu brechen. In Gegenwart einer großen Anzahl von Studenten, Gelehrten und Bürgersleuten jeglichen Ranges verbrannte Luther die päpstliche Bulle, auch die Dekretalien und andere Schriftstücke seiner Gegner, die Roms Macht unterstützten. Er begründete sein Vorgehen mit den Worten: „Dieweil durch ihr solch Bücherverbrennen der Wahrheit ein großer Nachteil und bei dem schlechten, gemeinen Volk ein Wahn dadurch erfolgen möchte zu vieler Seelen Verderben, habe ich … der Widersacher Bücher wiederum verbannt.“ „Es sollen diese ein Anfang des Ernstes sein; denn ich bisher doch nur gescherzt und gespielt habe mit des Papstes Sache. Ich habe es in Gottes Namen angefangen; hoffe, es sei an der Zeit, daß es auch in demselben ohne mich sich selbst ausführe.“ (Luther, EA, XXIV 155,164) {GK 142.1}
Auf die Vorwürfe seiner Feinde, die ihn mit der Schwäche seiner Sache stichelten, erwiderte Luther: „Wer weiß, ob mich Gott dazu berufen und erweckt hat und ihnen zu fürchten ist, daß sie nicht Gott in mir verachten … Mose war allein im Ausgang von Ägypten, Elia allein zu König Ahabs Zeiten, Elisa auch allein nach ihm; Jesaja war allein in Jerusalem … Hesekiel allein zu Babylon … Dazu hat er noch nie den obersten Priester oder andere hohe Stände zu Propheten gemacht; sondern gemeiniglich niedrige, verachtete Personen auferweckt, auch zuletzt den Hirten Amos … Also haben die lieben Heiligen allezeit wider die Obersten, Könige, Fürsten, Priester, Gelehrten predigen und schelten müssen, den Hals daran wagen und lassen … Ich sage nicht, daß ich ein Prophet sei; ich sage aber, daß ihnen so vielmehr zu fürchten ist, ich sei einer, so vielmehr sie mich verachten und sich selbst achten … so bin ich jedoch gewiß für mich selbst, daß das Wort Gottes bei mir und nicht bei ihnen ist.“ (Luther, EA, XXIV 58.59) {GK 142.2}
Aber nicht ohne gewaltigen inneren Kampf entschloß sich Luther schließlich zu einer Trennung von Rom. Etwa um diese Zeit schrieb er: „Ich empfinde täglich bei mir, wie gar schwer es ist, langwährige Gewissen, und mit menschlichen Satzungen gefangen, abzulegen. Oh, mit wie viel großer Mühe und Arbeit, auch durch gegründete Heilige Schrift, habe ich mein eigen Gewissen kaum können rechtfertigen, daß ich einer allein wider den Papst habe dürfen auftreten, ihn für den Antichrist halten … Wie oft hat mein Herz gezappelt, mich gestraft, und mir vorgeworfen ihr einig stärkstes Argument: Du bist allein klug? Sollten die andern alle irren, und so eine lange Zeit geirrt haben? Wie, wenn du irrest und so viele Leute in den Irrtum verführest, welche alle ewiglich verdammt würden? Bis so lang, daß mich Christus mit seinem einigen gewissen Wort befestigt und bestätigt hat, daß mein Herz nicht mehr zappelt.“ (Luther, EA, LIII 93,94; Martyn, „Life and Times of Luther“ 372,373) {GK 143.1}
Der Papst hatte Luther den Kirchenbann angedroht, falls er nicht widerrufen sollte, und die Drohung wurde jetzt ausgeführt. Eine neue Bulle erschien, welche die endgültige Trennung des Reformators von der römischen Kirche aussprach, ihn als vom Himmel verflucht erklärte und in die gleiche Verdammung alle einschloß, die seine Lehren annehmen würden. Der große Kampf hatte nun mit aller Gewalt begonnen. {GK 143.2}
Widerstand ist das Schicksal aller, die Gott benutzt, um Wahrheiten, die besonders für ihre Zeit gelten, zu verkündigen. Es gab eine gegenwärtige Wahrheit in den Tagen Luthers — eine Wahrheit, die zu jener Zeit von besonderer Wichtigkeit war; es gibt auch eine gegenwärtige Wahrheit für die heutige Kirche. Gott, der alles nach dem Rat seines Willens vollzieht, hat es gefallen, die Menschen in verschiedene Verhältnisse zu bringen und ihnen Pflichten aufzuerlegen, die der Zeit, in der sie leben, und den Umständen, in denen sie sich befinden, entsprechen. Würden sie das ihnen verliehene Licht wertschätzen, so würde ihnen auch die Wahrheit in höherem Maße offenbart werden. Aber die Mehrzahl der Menschen begehrt die Wahrheit heutzutage ebensowenig zu wissen wie damals die Römlinge, die Luther widerstanden. Es besteht noch heute die gleiche Neigung wie in früheren Zeiten, statt des Wortes Gottes Überlieferungen und menschliche Theorien anzunehmen. Wer die Wahrheit für diese Zeit bringt, darf nicht erwarten, eine günstigere Aufnahme zu finden als die früheren Reformatoren. Der große Kampf zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen Christus und Satan wird bis zum Ende der Geschichte dieser Welt an Heftigkeit zunehmen. {GK 143.3}
Jesus sagte zu seinen Jüngern: „Wäret ihr von der Welt, so hätte die Welt das Ihre lieb; weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich habe euch von der Welt erwählt, darum haßt euch die Welt. Gedenket an mein Wort, das ich euch gesagt habe: ‚Der Knecht ist nicht größer denn sein Herr.‘ Haben sie mich verfolgt, sie werden euch auch verfolgen; haben sie mein Wort gehalten, so werden sie eures auch halten.“ Johannes 15,19.20. Anderseits erklärte unser Heiland deutlich: „Weh euch, wenn euch jedermann wohlredet! Desgleichen taten ihre Väter den falschen Propheten auch.“ Lukas 6,26. Der Geist der Welt steht heute dem Geist Christi nicht näher als in früheren Zeiten. Wer das Wort Gottes in seiner Reinheit verkündigt, wird heute nicht willkommener sein als damals. Die Art und Weise des Widerstandes gegen die Wahrheit mag sich ändern, die Feindschaft mag weniger offen sein, weil sie verschlagener ist; aber dieselbe Feindschaft besteht noch und wird bis zum Ende der Zeit sichtbar sein. {GK 144.1}
aus „Der Große Kampf“, von Ellen G. White, S.134-144, Saatkornverlag Hamburg, 1973; Herausgeber der hier verwendeten digitalen Ausführung: Ellen G. White Estate, Inc. www.egwwriting.org; weiterlesen bei www.egwwritings.org